Pädagoge und Publizist Michael Felten„Bei der Inklusion liegt vieles im Argen“
Köln – Kaum ein Thema ist so umstritten in Nordrhein-Westfalen wie die Inklusion. Auch unter der schwarz-gelben Landesregierung gibt es Kritik. Ein Gespräch mit Michael Felten über Versäumnisse bei der Integration von Menschen mit Behinderungen in den Regelschulen. Der Pädagoge und Publizist ist Autor des Buches „Die Inklusionsfalle“.
Herr Felten, ist die Weichenstellung der neuen Landesregierung bei der Inklusion richtig oder ein Schritt zurück hinter die eigentlichen Ziele der Inklusion?
Sie geht in die richtige Richtung, denn mit dem Zustand, den Rot-Grün bis 2017 herbeigeführt hat, konnte kein Mensch vernünftig leben, weder die betroffenen Schüler noch deren Lehrer. Das Grundproblem war ja, wie man die an sich bedenkenswerte Grundidee umsetzen wollte: ohne sinnvolles Konzept und ohne angemessene Ressourcen. Es sollte nichts kosten, aber alles sollte anders werden. So wurde in NRW durch eine übereilte und unterfinanzierte Radikalinklusion in der Schule viel Porzellan zerschlagen – sowohl bei den Förderstrukturen als auch im Bewusstsein der Bevölkerung.
Was wäre besser gewesen?
Man hätte es umgekehrt machen müssen und eine ganze Legislaturperiode nur kräftig die Werbetrommel für den Lehrerberuf rühren müssen. Außerdem hätte man mit Fachleuten in aller Ruhe ein sinnvolles Konzept für inklusive Bildung stricken können. Aber die damalige Schulministerin Frau Löhrmann (Grüne) hat eben die Hinweise und Warnungen aller nicht-parteigebundenen Experten und Verbände in den Wind geschlagen.
Warum hat es unter Rot-Grün nicht schon eine Veränderung gegeben?
Man hat wohl gehofft, mittels Inklusion doch noch eine Art generelle Gesamtschule realisieren zu können. Denn darauf wäre es hinausgelaufen, wenn jedes Kind jede Schulform hätte besuchen dürfen. Den Eltern und Lehrern hat man derweil Sand in die Augen gestreut und gesagt: Ihr braucht keine Angst zu haben, ihr müsst nur das Neue wollen, dann klappt es schon. Und die Idee "Eine Schule für alle" klingt ja auch zunächst enorm human. Nur liegt die Tücke eben im Detail, manche Kinder lernen und entwickeln sich einfach schlechter, wenn sie mit ganz verschiedenen anderen in einem Raum sind. Und dann fehlte es den Inklusionsschulen ja auch massiv an Sonderpädagogen, die konnten nur kurz für ein, zwei Stunden in den Unterricht hineingucken, schon mussten sie wieder in eine andere Klasse oder gar Schule. An Förderschulen waren sie konstante und speziell kundige Bezugspersonen für ihre Schüler, diese wurden zudem in kleineren Gruppen unterrichtet. Jetzt in der Sparinklusion waren die Kinder weniger aufgehoben als zuvor, fühlten sich zusehends verloren („lost in inclusion“ ).
Wie waren die Reaktionen?
Eine Mutter hat in einem Chat geschrieben: Sorry, liebe Eltern von „normalen“ Kindern, mein Kind ist mir zu schade dafür, um euren Kindern zusätzliche soziale Erfahrungen zu ermöglichen. Ich möchte, dass mein Kind optimal gefördert wird und das ist nach heutigem Stand nur an der Förderschule möglich. Und einige Pädagogen haben damals vorzeitig ihre Stelle gekündigt, auf eigene Kosten, nicht allein wegen der Überlastung, sondern auch, weil sie in diesem Chaos keinem Kind mehr gerecht werden konnten.
Nun sollen sogenannte Schwerpunktschulen gebildet werden. Kritiker sehen darin bessere Förderschulen, also einen Rückschritt bei der Inklusion.
Das Problem ist, wenn der Geist unglücklich aus der einen Flasche heraus ist, bekommt man ihn nur schwer in eine bessere hinein. Man kann die für breite Inklusion nötige höhere Zahl an Sonderpädagogen ja nicht einfach herbeizaubern, zumal es auch schon an Regellehrkräften massiv mangelt. Im übrigen hat die UN-Konvention gar nichts gegen besondere Unterstützung bei besonderen Benachteiligungen - nichts anderes tun aber gute Förderschulen.
Was ist Ihre Idee?
Man hat jetzt aufgehört, die zur Verfügung stehenden Mittel nach dem Gießkannenprinzip zu verstreuen, sondern will sie konzentriert nutzen und an ausgewählten Schulen gute Förderqualität garantieren. So kam man ja auch in Bayern voran: Dort wollte man von Anfang an nicht Bildungsrevolution machen, sondern schlicht das Wahlrecht für Eltern von Kindern mit Behinderungen gewährleisten: In jedem Kreis werden sowohl inklusiv arbeitende Schulen angeboten als auch Spezialschulen für jeden Förderbedarf - oder auch einzelne Förderklassen an Regelschulen, mit starker schulinterner Vernetzung.
Die Gymnasien sind allesamt aus der Inklusion ausgestiegen. Eine gute Entwicklung?
Einige Gymnasien haben tatsächlich ihren Kurs geändert, sie waren wohl unter der alten Regierung allzu unüberlegt vorgeprescht. Im übrigen beteiligen sich alle Gymnasien weiterhin an der Inklusion - sofern die Handicaps der Schüler dem Abiturziel nicht grundsätzlich widersprechen. Es macht aber keinen Sinn, wenn man geistig behinderte Kinder in gymnasiale Klassen setzt. Selbst wenn permanent ein Sonderpädagogen zugegen wäre und diese Schüler eine eigene Gruppe bildeten, vielleicht gar mit den anderen zusammen Sportunterricht machten, wäre das eigentlich Augenwischerei: kein Miteinander, sondern höchstens ein Dabeisein. Das Gymnasium ist ein besonders anspruchsvoller Bildungsgang, Haupt- oder Realschüler können daran ja auch nicht ohne weiteres teilnehmen.
Die Förderschulen sollen hingegen wieder eine stärkere Rolle spielen. Wie ist denn deren Situation?
Viele Förderschulen leiden derzeit darunter, dass sie zu wenig Sonderpädagogen haben, weil diese an Regelschulen abgeordnet wurden. Gleichzeitig laufen diese Schulen aber über, weil eine Menge Förderschüler aus schlecht funktionierenden inklusiven Regelschulen zurückkehrt. Diesen fragilen Zustand kann niemand im Handumdrehen verändern, weil man hierfür mehr Lehrer benötigt. Es liegt sehr viel im Argen, das zeigen auch Diskussionen mit Praktikern, nur kann man nicht einfach das Ruder herumreißen, die Vorgängerregierung hat teilweise verbrannte Erde hinterlassen. Wir brauchen jetzt dringend eine Aufwertungsoffensive für die differenzierte Arbeit an Förderschulen sowie deren engere Anbindung an die Regelschulen. Dann wäre es auch leichter, dass Schüler zwischen diesen beiden Schulwegen ohne viel Aufwand wechseln können.
Was kann man aktuell verbessern?
Gescheitert ist die Sparinklusion mit der Brechstange. Auszubauen wäre die flexible Verbindung zwischen den Bildungsgängen sowie eine angemessene Entlastung der inkludierenden Lehrkräfte. Außerdem müssten Grundschulen wieder sonderpädagogischen Förderbedarf vor dem 3. Schuljahr feststellen dürfen, sonst verstreicht kostbare Entwicklungszeit für die Kinder. Überall da ist man auf einem guten Weg, wo der Fokus darauf liegt, was das einzelne Kind im Moment braucht. Genau das fordert die UN-Konvention. Und das sollte auch die Perspektive sein für NRW. Und nochmals: Man muss dringend Frau Löhrmanns Hauptversäumnis nachholen, nämlich massiv Lehrer anzuwerben, insbesondere Fachkräfte für Sonderpädagogik. Die lassen sich aber nur locken, wenn an den Schulen sinnvolle und zumutbare Verhältnisse bestehen.