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MissbrauchsskandalZeithistoriker sieht Blockadehaltung der Institutionen

Lesezeit 5 Minuten
Mit einer satirischen Plastik, aufgestellt vor dem Kölner Dom, wirft der Künstler Jacques Tilly der katholischen Kirche mangelnde Bereitschaft zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals vor.

Mit einer satirischen Plastik, aufgestellt vor dem Kölner Dom, wirft der Künstler Jacques Tilly der katholischen Kirche mangelnde Bereitschaft zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals vor.

Thomas Großbölting spricht im Interview über das Verhältnis der Deutschen zur Kirche.

Herr Professor Großbölting, die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) zeigt eine paradoxe Spannung im Verhältnis der Deutschen zu den Kirchen: Sie haben große Erwartungen an die Kirchen, trauen ihnen aber nur noch wenig zu. Geht Ihnen das auch so?

Für viele Menschen spielen die Kirchen eine zwar schwindende, aber gleichwohl immer noch wichtige Rolle. Dahinter steckt die Vorstellung, dass religiöse Gemeinschaften eine große Bereicherung für das persönliche Leben, aber auch für die politische Kultur sein können, weil sich hier Menschen versammeln, die über den eigenen Tellerrand hinaus denken und aus einer transzendenten Perspektive für eine bessere Gesellschaft wirken.

Der Hamburger Historiker Thomas Großbölting bei der Vorstellung der Studie zum Missbrauch im Bistum Münster.

Der Hamburger Historiker Thomas Großbölting bei der Vorstellung der Studie zum Missbrauch im Bistum Münster.

Eine recht abstrakte Sicht angesichts grassierenden kirchlichen Versagens.

Tatsächlich stehen der Missbrauchsskandal, die Reformunfähigkeit, die Selbstblockaden den genannten Erwartungen und ihrer Erfüllung zunehmend entgegen.

Wie stark gewichten Sie solche Faktoren – im Verhältnis zu dem, was Soziologen als Prozess einer fortschreitenden Säkularisierung bezeichnen?

Skandale oder Reformstau wirken sicherlich als Katalysatoren eines seit den 1950er Jahren durchgehenden Säkularisierungstrends, der wegführt von der verfassten Religiösität. Aber sie haben schon auch eine spezifische Kraft. Aus der KMU ergibt sich, dass die katholische Kirche etwa in puncto Ansehen und Vertrauen in weit höherem Maße verloren hat als die evangelische. Es ist inzwischen sogar so, dass Katholikinnen und Katholiken der evangelischen Kirche mehr vertrauen als ihrer eigenen.

Es gibt kaum institutionelle Lernprozesse. Das ist schon seltsam.
Professor Thomas Großbölting

Warten wir mal ab, was passiert, wenn die EKD endlich ihre eigene Missbrauchsstudie veröffentlicht!

Ende Januar soll das nun passieren.

Derweil steht die EKD-Ratsvorsitzende und Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, wegen Missbrauchsvorwürfen gegen einen früheren Kirchenmitarbeiter unter Druck. Die Verteidigungslinie: keine Erinnerung, Spekulation, strafrechtlich ohne Relevanz. Kommt Ihnen bekannt vor, oder?

Ja, das kommt mir sehr bekannt vor. Die Konfliktlinien wirken wie vorgestanzt: auf der einen Seite das Abwehren und Verleugnen, auf der anderen Seite die Forderung nach raschen und tiefgreifenden Konsequenzen. Auf beiden Seiten fehlt mir der Moment des Innehaltens, der aus der moralischen Abwehr oder Empörung einen reflektierten Umgang macht, der vor allem die Belange der Betroffenen mitdenkt. Aber Ihr Einwand zur Missbrauchsstudie der EKD zielt auf das Phänomen, dass es kaum institutionelle Lernprozesse gibt. Das ist schon seltsam.

Ihre Erklärung?

Ich glaube, das Meinungsspektrum innerhalb der Institutionen klafft so weit auseinander, dass ein einhelliges Vorgehen ganz schwierig, wenn nicht unmöglich ist. Dass es eine allgemeine Bereitschaft zur Aufarbeitung des Missbrauchs gäbe, ist für mich nicht erkennbar. Im Katholizismus etwa erlebe ich auch in der eigenen Arbeit nach wie vor einen starken, von mir unterschätzten Anteil reaktionärer Kräfte, die allen Aufarbeitungsbestrebungen ablehnend und mit Blockade begegnen.

Das Rettende kann nur von unten kommen.
Professor Thomas Großbölting

Nach wie vor?

Nach wie vor. Maßgebliche Würdenträger und ein beträchtlicher Teil der Basis sehen die Rettung darin, gegenüber den Herausforderungen durch sexualisierte Gewalt in den eigenen Reihen die Schotten dicht zu machen.

Woher sollte dann stattdessen Rettende kommen – doch vom Staat?

Ganz ehrlich: eine offene Frage. Was die Aufarbeitung betrifft, müsste tatsächlich der Staat stärker in die Pflicht gehen oder sich in die Pflicht nehmen lassen. Er könnte das auch, obwohl er mit seinen eigenen Institutionen – den Schulen, den Heimen und den Jugendbehörden – selbst nicht als das große Vorbild dasteht. Wenn Sie mit dem „Rettenden“ die Erneuerung kirchlichen Lebens meinen, kann das nur von unten kommen, aus den Gemeinden vor Ort.

Der Missbrauchsskandal kann zur Ablehnung einer klerikalen Pastoralmacht führen.
Professor Thomas Großbölting

Aber haben nicht gerade Sie in Ihrer Missbrauchsstudie für das Bistum Münster den „Bystander-Effekt“ in den Gemeinden beschrieben, wo die Gläubigen geflissentlich über sexuellen Missbrauch hinweggesehen haben und die Täter im Priesterstand gedeckt haben?

Völlig richtig – und man wird diesen Befund auf die Familien ganz generell ausdehnen können. In katholischen Familien der 1950er bis 1970er Jahre, die wir uns in der Studie besonders angeschaut haben, kam als Grund für das Wegschauen und Verschweigen zur allgemeinen Scham und zum innerfamiliären Schutzreflex tatsächlich noch ein religiöses Moment hinzu: Der Priester wurde mit der Aura des „heiligen Mannes“ umgeben, an der nicht gekratzt werden durfte. Und auch die Institution galt es als die „heilige Kirche“ zu schützen. Ich glaube allerdings, dass gerade da der Missbrauchsskandal zu einer Revision und zur Ablehnung einer klerikalen Pastoralmacht führen kann. Den Impuls dazu sehe ich jedenfalls eher in den Gemeinden als auf der Ebene der Bischöfe.

Da Sie nun aber in bischöflichem Auftrag zur Aufklärung des Missbrauchsskandals geforscht haben, wie frustriert sind Sie dann inzwischen, dass sich – wie Sie sagen – so wenig bewegt?

Als Wissenschaftler bin ich nicht überrascht, weil wir es mit den typischen Reaktionsmustern von Institutionen zu tun haben. Seit 2010, als der Skandal im Berliner Canisiuskolleg die Welle ins Rollen brachte, ist der Aufarbeitungsprozess geprägt von Pleiten, Pech und Pannen. Innerer Dissens verhindert konsequentes Handeln. An die Stelle von Selbstkritik tritt die Skandalisierung der Kritik. Damit musste ich rechnen. Als Katholik bin ich trotzdem frustriert, sehr frustiert.


Zur Person

Thomas Großbölting, geb. 1969, ist Professor für Neuere Geschichte/Zeitgeschichte an der Universität Hamburg und Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte. Seit Dezember 2022 ist Großbölting auch Direktor der Akademie der Weltreligionen in Hamburg.

Im Auftrag des Bistums Münster leitete er ein Forschungsprojekt zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Bistum. Die Studie wurde 2022 vorgestellt. Parallel dazu erschien Großböltings Buch „Die schuldigen Hirten. Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche“.


Tagung

Am Freitag, 24. November, wirkt Thomas Großbölting an einer Tagung unter dem Titel „Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche: Erfolgsstory oder Geschichte des Scheiterns“ mit. Veranstalter ist der Verein „Umsteuern!“. Weitere Referenten und Referentinnen sind unter anderem Rechtsanwalt Ulrich Wastl (Kanzlei WSW), Verfasser der von Kardinal Rainer Woelki unter Verschluss genommenen Studie zum Missbrauch im Erzbistum Köln, die Pädagogik-Professorin Claudia Bundschuh und der Kölner Staatsrechtler Stephan Rixen.

Die Tagung findet statt in der Karl-Rahner-Akademie, Jabachstraße 4-8, 50676 Köln.

Weitere Informationen: www.umsteuern.org

Den Auftakt bildet am Vorabend eine Podiumsdiskussion unter anderem mit der Journalistin und Autorin Christiane Florin (Deutschlandfunk) und dem Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller.

Podiumsdiskussion am Donnerstag, 23. November, 19.30 Uhr im Audimax der KatHO, Wörthstraße 10, 50668 Köln.

Nähere Informationen: www.katho-nrw.de