Belastung nach der Flutkatastrophe„So wie der Ort war, wird er niemals mehr werden“
Schuld – Zwischen fünf Terminen und einer Spendenübergabe, löffelt Helmut Lussi (65) im provisorischen Bürgerbüro an der Kirche, das seit Wochen als Anlaufstelle und Kommunikationszentrum von Schuld dient, schnell noch einen Teller Suppe. Das Erkennungszeichen des Ortsbürgermeisters der vom Hochwasser schwer getroffenen Ahr-Gemeinde mit ihren 700 Einwohnern ist eine dicke Kladde. Lussi trägt sie immer unter dem Arm. Sie ist sein zweites Gedächtnis.
„Darf ich mal eben stören?“ So beginnt jedes zweite Gespräch, das er führen muss. Die Straße nach Antweiler ist gesperrt. Wie kommt man jetzt zum Holz-Ablageplatz? Wie viele Helfer werden am Wochenende noch gebraucht? Wann war der Termin mit der Staatssekretärin nochmal?
Im Durchschnitt 500 Mails am Tag
500 E-Mails am Tag sind die Regel. Das Handy hat ihm seine Sekretärin zwischenzeitlich abgenommen und organisiert seinen Tag. Christina Müller-Lettau ist Lussis Nachbarin und von ihrem Arbeitgeber freigestellt. Normalerweise hat ein Ortsbürgermeister weder ein Büro noch eine Sekretärin. Aber Normalität gibt es in Schuld seit dem 15. Juli nicht mehr.
Herr Lussi, wie würden Sie den Zustand Ihrer Gemeinde beschreiben?
Helmut Lussi: Wir sind in der ersten Aufbauphase. Das Dorf ist schon zu 90 Prozent gesäubert. Wir haben das Glück, dass wir im oberen Ahrtal liegen und das Aufräumen zum großen Teil schon hinter uns haben. Ein großes Bauunternehmen aus Koblenz mit mehr als 1600 Mitarbeitern war hier schnell am Start. Die haben bei den Aufräumarbeiten mitgemacht und verfügen über ein eigenes Planungsbüro. Das sind sehr engagierte Leute, die jetzt damit beginnen können, den Wiederaufbau von Straßen und Brücken zu planen. Der Auftrag ist raus. Mit den Planern könnte es nämlich sehr schnell eng werden, wenn auch das untere Ahrtal loslegen kann. Und vor allem mit den Fachkräften und den Baufirmen. Da haben wir schon einen kleinen Vorsprung.
Aber noch keine konkrete finanzielle Unterstützung.
Das ist richtig. Aber die Zusagen sind ja da. Darauf muss ich mich verlassen. Ich kann nur hoffen, dass das Verfahren, um an die Hilfsgelder zu kommen, möglichst unbürokratisch abläuft. Der Wiederaufbau wird seine Zeit brauchen. Das ist nicht in zwei Jahren erledigt. Aber ich bin guter Dinge.
Angesichts dieser Zerstörungen. Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?
Der Zusammenhalt der Bevölkerung war und ist sehr positiv. Jeder hat jedem geholfen. Auch die, die gar nicht betroffen waren. Und was die freiwilligen Helfer hier für eine Arbeit geleistet haben, das war Wahnsinn, einfach der Wahnsinn. Denen kann man gar nicht genug danken. Die Freiwilligen sind hier mit Schaufel und Besen angerückt und haben mit bloßen Händen den Schlamm aus den Häusern geschleppt. Ohne diese Menschen wären wir noch lange nicht so weit.
Wie groß sind die Schäden?
Elf Häuser sind verloren, mussten abgerissen werden. Das habe ich nicht erwartet Die ganze Infrastruktur im Ort ist auch zerstört, unser Dorfgemeinschaftshaus gibt es nicht mehr. Wir wissen noch nicht, wo wir das neue hinbauen sollen. Am alten Standort bekommen wir keine Genehmigung mehr, weil der zu nah an der Ahr liegt. Allein die Schäden an kommunalen Einrichtungen betragen 15 Millionen Euro. Wie das bei den Privateigentümern aussieht, weiß derzeit keiner. Da gibt es noch viele Unsicherheiten.
Welcher Art?
Es werden viele Menschen vor dem Winter nicht mehr in ihre Häuser zurückkehren können, weil die erst noch trocknen müssen. Diejenigen, die davon betroffen sind, wissen das aber schon. Bei denen, die jetzt wieder einziehen können, werden Gutachter die Schäden bewerten. Das ist sehr wichtig wegen der Entschädigungszahlungen. Man weiß auch noch gar nicht, ob die Häuser vielleicht kontaminiert sind. Das lässt ich erst feststellen, wenn sie trocken sind. Es waren auch Öl und andere Schadstoffe im Wasser. Bei den Bodenproben, die man gezogen hat, hatten die Behörden keine Bedenken. Aber ob das auch für die Häuser gilt, weiß derzeit keiner.
Was wird aus den Menschen, die ihre Häuser am alten Ort nicht mehr aufbauen können oder wollen?
Wir müssen dafür sorgen, dass sie an anderer Stelle Bauland bekommen. Aber das ist leider nicht so einfach.
Warum?
Es gibt eine Perspektive für neues Bauland. Aber das sind jetzt Wiesenflächen. Dazu müsste das Bundesbaugesetz geändert werden, weil die Flächen außerhalb des Bebauungsplans liegen. Es gibt zwar vage Pläne, das Gesetz für die Katastrophenregionen entsprechend zu lockern. Das muss aber schnell gehen. Wenn es erst Dezember wird und die bürokratischen Mühlen wieder in ihrem alten Trott mahlen, sind alle Behörden wieder auf dem Plan. Was jetzt mal schnell an einem Tisch entschieden werden kann, wird dann wieder ein endloser Akt. Dann hat sich das erledigt, bis dahin sind die weggezogen. Wir haben auch noch 33 unbebaute Grundstücke. Aber die Eigentümer wollen einfach nicht verkaufen. Das kann ich nicht verstehen. Kürzlich sagte mir eine 89-Jährige, ehe ich verkaufe, baue ich lieber nochmal neu. Das kann ich nicht nachvollziehen.
Wie könnte Schuld nach dem Wiederaufbau aussehen?
So wie der Ort war, wird er niemals mehr werden. Das ist aber auch eine Chance, dass er schöner wird als vorher. Wenn wir wieder aufbauen, wird das in einem neuen Stil passieren. Anders. Schöner. Wir haben jetzt auch einige Flächen, auf denen nicht mehr gebaut werden kann. Da könnten ein Park und ein Kinderspielplatz entstehen.
Wie kommt das Dorf durch den Winter?
Das ist eine gute Frage. Jetzt sind die Menschen noch voller Adrenalin und mit den Aufräum-Arbeiten beschäftigt. Aber es wird ja jetzt immer früher dunkel. Dann werden manche noch ins Grübeln kommen und erst realisieren, was eigentlich passiert ist. Das Ganze hier ist nicht in ein oder zwei Jahren zu bewältigen. Das wird viel länger dauern.
Was kann die Gemeinde tun?
So viel Normalität wie irgend möglich reinbringen. Unseren Weihnachtsmarkt wird es auch in diesem Jahr geben. Und es wird eine Gruppe aus Thüringen kommen und ein Helferfest organisieren. Vergangene Woche war eine Gruppe aus dem Schwarzwald hier mit einem Grillwagen mit 1500 Würstchen. Und einige Leute aus dem Ort haben hier abends Musik gemacht. Das tut allen mal gut für Leib und Seele. Der Jagdpächter aus Köln kam letztens mit einem Riesenequipment an, mit Steaks vom Feinsten. Der Bierwagen war voll bis oben hin. Der stand hier drei Wochen am Bürgerbüro und jeder konnte auch mal ein Bier trinken. Das muss auch mal sein.