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Tanzende Soldaten und AntisemitismusTikTok im Nahost-Konflikt ist laut Experten „zentraler Ort für Propaganda“

Lesezeit 5 Minuten
Ein Junge hält ein Smartphone in den Händen, auf dem das Logo der Kurzvideo-App TikTok zu sehen ist. (Symbolbild)

Die Berichterstattung über die App TikTok benötigt laut Medienwissenschaftler Marcus Bösch eine kritische Haltung der Nutzenden. (Symbolbild)

Wie soziale Medien für Propaganda genutzt werden und wie man seriösen Content erkennt, erzählt Medienexperte Marcus Bösch im Interview.

Hallo Herr Bösch. Welche Rolle spielt TikTok bei Konflikten wie dem Krieg in Nahost?

TikTok galt lange eher als Unterhaltungs-und Tanzplattform für junge Leute. Spätestens mit der russischen Invasion haben die meisten Beobachterinnen und Beobachter festgestellt, dass die Plattform auch ein zentraler Ort für Kriegsberichterstattung und Propaganda geworden ist. „Wartok“ eben – eine Kombination aus „Tiktok“ und „War“. Es gibt dort zahlreiche Augenzeugenberichte vor Ort.

Sogenannte „Warfluencerinnen und -fluencer“ wie Valeria Shashenok in der Ukraine berichten unmittelbar aus ihrem Alltag. Sie nutzen dafür die Möglichkeiten der App wie beispielsweise Tanz-Challenges. So lassen sich auch Propagandabotschaften der Konfliktparteien verbreiten.

Staaten propagieren ihre Seite auf sozialen Kanälen wie TikTok

Wie funktioniert Propaganda auf TikTok?

Letztlich wird – wie immer bei Propaganda – versucht, das Narrativ in einem Informationskrieg zu beherrschen. Ukrainische Soldaten haben schon auf der Plattform getanzt, um der Weltöffentlichkeit, aber auch dem russischen Feind zu signalisieren „Wir haben keine Angst. Wir finden sogar Zeit, mit kompletter Militärmontur auf dem Feld zu tanzen“. Das kann man jetzt in Israel auch wieder beobachten: Die Konfliktparteien versuchen mit teils wirklich ausgeklügelten Strategien ihre Propaganda dort zu verbreiten.

Was sind das für Strategien?

Eine ganz direkte ist: Staats- oder staatsnahe Akteure sind selbst mit eigenen Accounts vertreten – das war im Krieg in der Ukraine noch nicht so. Das israelische Militär hat dagegen gleich zwei Accounts: einen internationalen und einen hebräischen. Das ist eine völlig neue Qualität.

Auch Livestreaming wird gezielt eingesetzt, um Spendengelder zu akquirieren. Es gibt bei TikTok so genannte Livestreaming-Battles, bei denen Menschen, die jeweils eine Konfliktpartei repräsentieren, gegeneinander antreten. Da kann man dann digitale Rosen oder Cowboy-Hüte spenden, die mit realem Geld eingekauft werden. Bis zu 50 Prozent davon gehen an Tiktok – die Plattform verdient also sogar mit.

Und man kann vieles verschleiern oder die Aufmerksamkeit umlenken. Wenn auf dem Account des Israelischen Militärs IDF junge, gut aussehende Menschen signalisieren, „Wir bringen keine Leute um, sondern wir tanzen“ soll das natürlich auch davon ablenken, dass in diesem Krieg abertausende Menschen getötet werden.

Ursprung von Informationen auf sozialen Medien ist oft uneinsichtig

Was macht TikTok als Propagandakanal so gefährlich?

Gefährlich ist, dass man nicht weiß, von wem Informationen kommen. Es gibt im Nahost-Konflikt laut nahezu einhelliger Meinung von Expertinnen und Experten sehr viel mehr Desinformationen als beim Krieg in der Ukraine. Da finden Kampagnen statt, bei denen bisweilen der genaue Zweck oft nicht direkt deutlich wird.

Aber klar ist: Es wird versucht, gezielt Einfluss zu nehmen – nicht nur von den Konfliktparteien, sondern auch aus China, dem Iran und Russland. Da wird teils einfach altes Material aus anderen Konflikten oder von YouTube genommen, zusammengebastelt und dann behauptet, das wären Aufnahmen aus dem aktuellen Konfliktgebiet. Es ist nicht gleich ersichtlich, welche Informationen glaubwürdig sind und welche nicht.

Woran erkennt man denn seriösen Content?

Das wird zunehmend schwieriger. Abseits Accounts tradierter Medienakteure ist es nicht immer so einfach nachzuvollziehen, mit welcher Intention Menschen diese Videos produzieren. Bisweilen schaut man sich die an, denkt „oh interessant“ und plötzlich kippt das ins Esoterische oder Antisemitische.

Aber nur weil eine Person einen einschlägigen Hashtag wie „Free Palestine“ verwendet, ist der Inhalt nicht per se antisemitisch. Das Ziel von Propaganda ist ja auch, dass man sich unsicher ist und denkt, ja, da könnte was dran sein. Dagegen muss man erstmal ankommen. Am besten ist, man schaut sich die Accounts genauer an. Ist das jemand, der oder die schon lange Tiktok nutzt - oder wurde der Account jetzt erst aufgesetzt?

Man sollte auch mal in die Kommentare schauen, die Infos mit Nachrichtenportalen gegenchecken, mit Freundinnen, Freunden, Eltern oder Lehrkräften darüber reden. Man sollte diese einzelnen Infos versuchen zu kontextualisieren und eine kritische Grundhaltung haben.

Auch Plattformen wie Instagram und X, ehemals Twitter, tragen zur Desinforamtion bei

Welchen Einfluss hat die Plattform auf Radikalisierungstendenzen in Deutschland?

Man kann meiner Ansicht nach nicht sagen „Es gab hier drei Radikalisierungsvideos und jetzt brennt Neukölln“. Die Zusammenhänge sind viel komplexer. Und haben nur bedingt mit TikTok zu tun, was als Plattform medial oft herausgegriffen wird, obwohl sich Menschen natürlich auch auf anderen Plattformen wie Instagram politisch äußern.

Das gab es ja schon vor TikTok und wird es wahrscheinlich auch danach geben. Was man auf jeden Fall sagen kann, ist, dass es an Wissen fehlt, um die Inhalte der Plattformen – nicht nur bei TikTok – einordnen zu können.

Welche Rolle spielen andere soziale Medien als Propagandakanal?

In der öffentlichen Wahrnehmung ist TikTok als jüngste Plattform mit eher schlechter Presse sehr präsent. Aber auch auf anderen Plattformen werden Falschinformationen und Propaganda verbreitet. Bei Instagram gibt es eine ganze Reihe von Influencerinnen und Influencern aus dem Lifestyle-Beauty-Kontext, die jetzt ganz klar Propaganda verbreiten.

Zum Beispiel der von Nora Achmaoui und ihrem Mann. Die beiden leben in Dubai und teilen bisweilen recht offensiv islamistischen Content. Und die gleichen Hashtags, die bei TikTok medial für Furore gesorgt haben, gibt es bei Instagram. Auch X, also ehemals Twitter, ist im Moment ein zentraler Ort für Desinformationskampagnen.

Selbst bei Roblox, einer Online-Spieleplattform, gab es virtuelle pro-palästinensische Demonstrationen – obwohl politische Propaganda da bisher keine große Rolle gespielt hat. Letztlich wird jeder Ort im Internet inzwischen dafür genutzt, politische Meinungsäußerungen, aber auch Propaganda und Desinformationen zu verbreiten.

Die EU-Kommission hat im Rahmen des Digital Service Act ein Verfahren gegen TikTok angekündigt. Wie wirkungsvoll sind solche Forderungen?

Die Ankündigung betrifft ja nicht nur TikTok, sondern ebenso den Facebook-Mutterkonzern Meta. Die Androhung von massiven Strafzahlungen verfehlt sicher nicht ihre Wirkung. Dass Threads nicht in Europa gestartet wurden, ist meiner Ansicht nach schon Teil dieser ganzen Gemengelage. Deswegen darf man das nicht unterschätzen. Es bleibt inzwischen in Brüssel nicht nur bei warmen Worten. Und das wird von den Plattformen sehr ernst genommen. (rnd)