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Abschiebung aus Gemeinden36 Menschen im Kirchenasyl in Köln – Anfragen in die Höhe geschnellt

Lesezeit 6 Minuten
03.06.2023, Köln: NRW-weite Demonstration unter dem Motto Hände weg vom Asylrecht, keine Kompromisse mit der Festung Europa! Foto: Uwe Weiser

Demonstration für eine Stärkung des Asylrechts in Köln im Juni.

Eine geplante Abschiebung eines kurdisches Paar aus einer Kirchengemeinde in Nettetal schlug Wellen. Der Fall könnte am Ende das Kirchenasyl stärken.

Es war sechs Uhr morgens, als die Ausländerbehörde mit dem Ordnungsamt in das Gemeindehaus in Nettetal eindrang, in dem ein kurdisches Ehepaar im Kirchenasyl lebte. Sie brachen die erste Tür auf, zeigten der von dem Paar alarmierten Pfarrerin einen richterlichen Beschluss, weshalb diese die andere Tür öffnete.

Das kurdische Paar war 2021 aus dem Nordirak nach Polen geflohen. Dort seien sie von den polnischen Behörden unmenschlich behandelt und geschlagen worden, begründeten sie ihre Ausreise nach Deutschland. Seit Mai garantierte die evangelische Kirchengemeinde Lobberich/Hinsbeck in Nettetal, Kreis Viersen, ihnen Kirchenasyl.

Die geflüchtete Frau erlitt noch im Gemeindezentrum einen Zusammenbruch, ein Amtsarzt bescheinigte ihr trotzdem die Reisefähigkeit. „Wir holen euch zurück“, versprach die Pfarrerin dem Paar. Nichts da, habe der Leiter der Ausländerbehörde der Pfarrerin zufolge erwidert.

Elke Langer, Pfarrerin der evangelischen Kirchengemeinde Lobberich/Hinsbeck

Elke Langer, Pfarrerin der evangelischen Kirchengemeinde Lobberich/Hinsbeck in Nettetal, klagt die Behörden an.

Am Flughafen, wo sie und ihr Ehemann in einen Flieger nach Polen steigen sollten, brach sie erneut zusammen. Die Bundespolizei stoppte die Abschiebung. Die Ausländerbehörde beantragte einen Haftbefehl, die Eheleute kamen nach Darmstadt, in Abschiebehaft. „Das ist hochgradig unverschämt, was hier passiert ist“, sagt Elke Langer, Pfarrerin der evangelischen Kirchengemeinde. „Schikane, würde ich sagen.“

Kirchenasyl: Staatlich respektierter ziviler Ungehorsam

Der Vorfall in Viersen löste bundesweit Kritik aus. Aus der Sicht des Netzwerks Kirchenasyl hat die Ausländerbehörde mit dem Bruch des Kirchenasyls eine rote Linie überschritten. Gegen ein Gesetz verstoßen haben die Behörden vermutlich nicht. Das Kirchenasyl ist eine Form des zivilen Ungehorsams, das vom Staat meist aus Respekt vor den christlichen Werten geduldet wird.

Im Jahr 2015 schlossen die katholische und evangelische Kirche eine Vereinbarung mit dem Bundesamt für Migration. Kirchengemeinden melden seither bei ihnen aufgenommene Geflüchtete noch am Tag der Aufnahme an das Bundesamt, legen den Kontakt zu einer Ansprechperson bei und schicken kurz darauf eine ausführliche Begründung für die Aufnahme hinterher.

Asyl hat im Christentum eine Jahrtausende alte Tradition. „Es stammt aus dem Judentum, wo Menschen zum Altar flüchten konnten und dort vor der Blutrache verschont waren“, sagt Pfarrerin Langer. Selbst Jesus' Familie musste kurz nach seiner Geburt von Bethlehem nach Ägypten flüchten.

Das Kirchenasyl in seiner heutigen Form als politische Bewegung entstand 1983: Die Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin gewährte einer palästinensischen Familie, der die Abschiebung drohte, das erste Kirchenasyl. Sie begründete ihre Entscheidung mit dem Tod eines türkischen Geflüchteten, der sich kurz zuvor wegen seiner drohenden Abschiebung aus dem Fenster eines Berliner Gerichtsgebäudes gestürzt hatte. Weitere Kirchengemeinden folgten dem Beispiel der Heilig-Kreuz-Kirche.

„Wir richten nur Kirchenasyl ein, wenn vorher Fehler passiert sind“

Die meisten Menschen im Kirchenasyl sind sogenannte „Dublin-Fälle“: Geflüchtete müssen eigentlich ihr Asyl-Verfahren in dem EU-Land durchlaufen, das sie als erstes erreicht haben. Im Fall des Viersener Paares war dies Polen. Erst, wenn sie sechs Monate in Deutschland gelebt haben, können sie das Asylverfahren hier durchlaufen. Angesichts der vielen Abschiebungen nach Bulgarien, Polen und Rumänien, wo gegen die Rechte der Geflüchteten regelmäßig verstoßen werde, so das Netzwerk Kirchenasyl, würden einige Menschen Schutz im Kirchenasyl suchen.

„Wir richten nur Kirchenasyl ein, wenn wir den begründeten Verdacht haben, dass vorher Fehler passiert sind“, sagt Langer. Durch das Kirchenasyl haben die Geflüchteten eine Chance, Missverständnisse zu klären, neue Dokumente für ihr Verfahren zu sammeln, und auf eine Wiederaufnahme ihres Asylverfahrens oder die Härtefallprüfung hinzuwirken. Das Kirchenasyl werde vom Staat respektiert, weil es Milde zulässt, wenn die Gesetzeslage hart, manchmal vielleicht zu hart ist.

In Köln leben derzeit 36 Menschen im Kirchenasyl, bundesweit sind es 655 Personen, darunter 136 Kinder. 405 von ihnen sind sogenannte „Dublin-Fälle“. Dieses Jahr wurden bereits 285 Kirchenasyle beendet. „Mittlerweile kriegen wir pro Tag zwischen 15 und 20 Anfragen“, sagt Benedikt Kern vom „Netzwerk Kirchenasyl“. „Vor fünf, sechs Jahren hatten wir pro Woche vielleicht 20 Anfragen.“ In etwa 10 Prozent der Fälle wird Kirchenasyl gewährt.

In den letzten 12 Monaten erhielten 99 Prozent der Menschen, die zuvor im Kirchenasyl lebten, eine Aufenthaltsgenehmigung. In wenigen Ausnahmen wurde das Kirchenasyl im beiderseitigen Einverständnis zwischen Amt und Kirche aufgelöst und die Person abgeschoben.

Kurdisches Ehepaar lebt wieder in Viersen

Das kurdische Paar, welches die Ausländerbehörde in einen Flieger nach Polen setzen wollte, verbrachte zwei Wochen in Abschiebehaft in Darmstadt. Währenddessen demonstrierten Bürger in Viersen gegen den Bruch des Kirchenasyls, es kam zu Gesprächen der Landeskirche und dem Flüchtlingsministerium in NRW.

Letztendlich forderte die Bürgermeisterin von Viersen die Ausländerbehörde auf, den Haftantrag zurückzunehmen; das Paar wurde aus der Haft entlassen. Ein Tag später endete die sechsmonatige Überstellfrist. Heute leben die beiden Iraker in einer Flüchtlingsunterkunft in Viersen. Sie werden das Asylverfahren in Deutschland durchlaufen.

Das NRW-Ministerium für Flucht und Integration schreibt auf Anfrage, sie hätten erst am 11. Juli, also einen Tag später, „von dem Einzellfall erfahren.“ Unmittelbar danach hätte das Ministerium den Sachverhalt mit den beteiligten Akteuren aufgeklärt. „Das Land hat sich in den Prozess vor Ort aktiv eingebracht und stets betont, dass das Institut des Kirchenasyls einen wichtigen Beitrag leistet, um in schwierigen Einzelfällen Lösungen zu finden, die auf der einen Seite den rechtlichen Rahmen wahren und gleichzeitig besondere Härten verhindern können.“

Unabhängig davon werde die Landesregierung den Erlass zum Kirchenasyl erneuern und die „weiterhin vertretene Rechtsauffassung des Landes zu Fällen des Kirchenasyls“ aufbereiten. „Daneben ist die Kommunikation der beteiligten Akteure ein Schlüssel, um Situationen wie zuletzt in der Ausländerbehörde Viersen zu vermeiden.“

Nettetaler Pfarrerin: „Ich glaube, so schnell macht das niemand mehr“

Wieso wurde das Kirchenasyl in Viersen gebrochen? Diese Frage scheint bis heute nicht endgültig geklärt. Pfarrerin Langer zeigt sich auch sechs Wochen nach dem Vorfall „fassungslos“. „Nicht reden, nicht anklopfen, einfach einbrechen“ - so hätten die Behörden damals gehandelt.

Geschäftsstelle Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche e.V. in der Kirche zum Heiligen Kreuz in Berlin

Kirchenasyl für von der Abschiebung bedrohte Flüchtlinge gibt es in Deutschland seit 1983. Unzählige Helfer kümmern sich fern der öffentlichen Aufmerksamkeit in den Gemeinden um die abgetauchten Menschen.

Die Stadt Viersen verteidigt das Vorgehen der Ausländerbehörde und beschuldigt die geflüchtete Ehefrau, die Zusammenbrüche nur vorgetäuscht zu haben. Dies sei vom anwesenden Amtsarzt bestätigt worden. Nach gesicherten Informationen dieser Zeitung leidet die Frau jedoch unter einer ärztlich diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung und Depression.

Die Ausländerbehörde habe „trotz der fehlenden formalen Feststellung die geltenden Regelungen zum Kirchenasyl während des gesamten Verfahrens beachtet“, so die Stadt Viersen. Die Kirchengemeinde widerspricht dieser Darstellung und beteuert, das Kirchenasyl rechtzeitig angemeldet zu haben. Schlussendlich scheinen jedoch auch mögliche Übersetzungsfehler während des Verfahrens und unterschiedliche rechtliche Auffassungen zu dem Vorgang am 10. Juli geführt zu haben.

Am Ende nutzte die Behörde offenbar auch eine Regelungslücke: Ein Erlass der Landesregierung, wonach die Räumung eines Kirchenasyls nur auf ausdrückliche Anordnung des Bundesministeriums für Migration erfolgen darf, war zuvor ausgelaufen. Laut der Stellungnahme der Stadt Viersen fiel die Entscheidung, die Abschiebehaft des Paares zu beenden, deshalb aus politischen Gründen: Die Landesregierung vertrete die Auffassung, die in dem Erlass festgelegten Regeln müssten weiter gelten und wird dazu Gespräche mit den Kirchen führen. Um die Gespräche nicht zu belasten, habe das Ministerium die Bürgermeisterin von Viersen gebeten, die Abschiebung auszusetzen.

Für Pfarrerin Langer besteht in dem, was am 10. Juli in Nettetal geschah, keine grundsätzliche Gefahr für das Kirchenasyl. Im Gegenteil: „Nachdem es gebrochen und die Entscheidung anschließend zurückgenommen wurde, ist der Respekt vor dem Kirchenasyl eher gestiegen“, sagt Langer. „Ich glaube, so schnell macht das niemand mehr. Vor allem nicht, ohne vorher miteinander zu reden.“