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Interview

Jacques Tilly
„Einmal im Jahr haue ich drauf. Der Karnevalszug ist ideal dafür“

Lesezeit 10 Minuten
Der Künstler ist im Porträt zu sehen, er zieht eine Augenbraue trotzig-provokant nach oben.

„Die aufklärerischen, die demokratischen Kräfte müssten lauter sein“, sagt Jacques Tilly.

Jacques Tillys Karnevalswagen sorgen für große Aufmerksamkeit. Im Interview spricht er über Tabus im Karneval und warum in Köln andere Wagen fahren als in Düsseldorf.

Herr Tilly, die Menschen haben am Eröffnungstag Ihrer Ausstellung in Düsseldorf Schlange gestanden. Sind Ihre Plastiken gerade genau das Richtige für viele, denen in dieser Zeit einfach die Worte fehlen?

Jacques Tilly: Erstmal finde ich es erstaunlich, dass ich im Museum gelandet bin. Ich fühle mich leicht anmumifziert. Aber um ihre Frage zu beantworten: Viele Menschen, die mich auf der Straße, im Baumarkt oder sonst wo erkennen und ansprechen, sagen, dass sie meine Karnevalswagen nicht einfach nur gut finden, sondern dass sie ihnen helfen. Sie schaffen Orientierung in dieser neuerlichen Unordnung, die wir in der Welt im Moment erfahren.

Ist es das, worum es Ihnen geht, Orientierung?

Mir geht es jedenfalls nicht um eine bestimmte politische Position und auch nicht nur um reinen Karnevalsspaß. Mir geht es um Werte. Um Aufklärung. Um die Verteidigung der offenen Gesellschaft. Es geht um alles, was derzeit weltweit bedroht ist, um den Pluralismus, die Menschenrechte, den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung. Und die Menschen freuen sich einfach, dass wir in Düsseldorf mit unseren Wagen so klar und eindeutig für diese Werte eintreten, die uns die freieste Gesellschaft ermöglichen, die wir je hier in Deutschland hatten. Dann höre ich oft: „Machen Sie weiter so mit Ihren deutlichen Stellungnahmen gegen diesen ganzen rechtspopulistisch-autoritären Mist.“

Wenn Sie einen Blick in Ihre Ausstellung werfen: Welcher der Wagen aus der Vergangenheit würde die aktuelle Lage besonders gut beschreiben?

Da gibt es einige. Vielleicht das Demokratieblatt mit den gefräßigen Raupen. Das Motiv zeigt, wie der demokratische Rechtsstaat von innen ausgehöhlt wird, sodass letztendlich ein autoritärer Staat entsteht. Das ist ja die Agenda der Rechtsextremen überall auf der Welt. Aber ich muss bei dieser Frage vielleicht ein bisschen ausholen.

Ein Karnevalswagen bildet ein Blatt mit der Aufschrift Demokratie. Fünf rosa Raupen fressen sie auf. Auf ihnen sind die Name Erdogan, Putin, Trump, Kaczynski und Orban zu lesen.

Jacques Tilly über seine Demokratie auffressenden Raupen: „Ich bin in einer sehr menschenrechtsorientierten Zeit groß geworden, weil der Zweite Weltkrieg und die Naziverbrechen als Hintergrundstrahlung immer noch spürbar waren. Das hat meinen Werte-Kompass bis heute geprägt. Und ich merke, dass diese Orientierungspunkte momentan nach und nach zugeschüttet werden.“

Bitte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war es für alle offensichtlich, wie verabscheuungswürdig der Nationalsozialismus ist. Europa lag in Schutt und Asche und es folgte eine lange Phase, in der die Abgrenzung zur NS-Zeit zur Kernidentität gehörte. Und diese Phase läuft langsam aus, weil die Erinnerungen einfach verblassen.

Ich bin 1963 geboren und in einer sehr liberalen, menschenrechtsorientierten Zeit groß geworden, weil der Zweite Weltkrieg und die Naziverbrechen als Hintergrundstrahlung immer noch spürbar waren. Das hat meinen Werte-Kompass bis heute geprägt. Und ich merke, dass diese Orientierungspunkte momentan nach und nach zugeschüttet werden.

„Die Rechtsextremen gießen die braune Soße in die Hirne vor allem junger, wenig geschichtsbewusster Menschen“

„Flooding the Zone with shit“ wurde auch unverblümt als politische Strategie in den USA ausgerufen. Wo sehen Sie, dass diese Überwältigungsmethode bei uns greift?

Die Rechtsextremen fluten uns ihre üblen Narrative über Social Media direkt in die Köpfe, an den liberalen Medien vorbei. Sie gießen die braune Soße in die Hirne vor allem der jungen, unerfahrenen und wenig geschichtsbewussten Menschen.

Tilly im Porträt.

Jacques Tilly, 1963 in Düsseldorf geboren, ist Bildhauer und Kommunikationsdesigner und hat sich seit 1998 auf den Bau von Karnevalswagen für Düsseldorf spezialisiert. Heute ist er verantwortlich für die meisten Wagen, nicht nur für die politischen Mottowagen, mit denen er jedes Jahr auch international für Aufsehen sorgt. Jenseits des Karnevals entwirft und fertigt Tilly mit seinem Kollektiv von Künstlerinnen und Künstlern Großplastiken aller Art und für unterschiedlichste Gelegenheiten.

In welcher Form sind Sie denn bei Social Media unterwegs?

Ich verfolge das, bin aber nicht aktiv. Ich hatte von Anfang an Aversionen gegen Social Media, das Ganze war mir unheimlich. Wenn das alles in falsche Hände gerät, dann gibt es niemanden, der das stoppen kann. Und im Moment erleben wir genau das ja in den USA. Leute wie Elon Musk sind die neuen Gatekeeper, saugen hemmungslos Daten ab, bestimmen die Kommunikationsströme ohne auch nur die Spur einer Kontrolle oder Einschränkung. Erschreckend.

Wären Sie mit Ihrer Bildsprache nicht geradezu prädestiniert, auch in den Sozialen Medien eine Gegenerzählung zu etablieren?

So weit bin ich auch inzwischen. Wir dürfen den Extremisten nicht die Plattformen überlassen. Ich habe mir vorgenommen, mich da in den nächsten Jahren einzubringen. Aber so einfach ist das nicht. Der digitale Kampfplatz wird beherrscht durch Multiplikatoren und durch Manipulationen durch Bots, durch russische Trollfabriken. Und wenn nur 2000 Leute meine Clips sehen, bringt das natürlich nicht viel. Doch das liberale Lager muss hier einfach erfolgreichere Strategien entwickeln.

Was glauben Sie, woran diese gerade scheitern?

Die aufklärerischen, die demokratischen Kräfte müssten lauter sein. Das sind sie aber nicht, weil sie immer noch so ein Anständigkeit-Ethos haben. Aber wir können genauso verletzend und polemisch sein wie die Rechtsradikalen, wir können und müssen auch starke Emotionen erzeugen. Zumindest versuche ich das mit meinen Wagen. Einmal im Jahr. Da haue ich drauf, so gut ich kann. Der Karnevalszug ist ideal dafür, es gibt kaum eine öffentlichere Bühne mit mehr Reichweite.

„Ich kann nicht Jahr für Jahr extremer werden“

Satire muss böse sein, um zu wirken, heißt es. Verspüren Sie deshalb den Impuls, Ihre Bildersprache auf den Karnevalszügen noch zu verschärfen?

In der Tat gibt es hier die Gefahr der Selbstüberholung. Ich kann nicht Jahr für Jahr extremer werden. Dann würden meine Wagen ins Absurde kippen, die Menschen würde das nicht mehr akzeptieren.

Ich will ja nicht missionarisch bevormunden. Meine Aufgabe ist es, das einzufangen und gute Bildformeln dafür zu finden, was die Mehrheit der Menschen fühlt und denkt.

Wie finden Sie denn heraus, was die Mehrheit der Menschen fühlt und denkt?

Ich habe beispielsweise in der Wagenbauhalle, wie überhaupt im Karneval, direkten Kontakt zu Menschen aus allen Milieus. Und meine Erfahrung ist, dass allen, die Karneval feiern, die Wahlerfolge der AfD unheimlich sind. Das wird in Köln nicht anders sein.

Aber abgesehen von der Haltung, wie ist es mit der Gewichtung der Themen im Karnevalszug, die derzeit in der öffentlichen Debatte ja sehr einseitig ausfällt.

Ja, es gibt so viele Themen, die gerade nicht behandelt werden. Auch wenn es gerade kein Thema ist, wird die menschliche Zivilisation nach wie vor vom Klimawandel bedroht. Die meisten aktuellen Themen sind wirklich lächerlich im Verhältnis zu dem, was auf die Menschheit zukommt, wenn wir weiter ungehemmt CO₂ in die Luft blasen. Nur vier Grad plus bedeutet wortwörtlich die Verwüstung der Erde. Ganz einfach. Aber das spielt im Moment überhaupt keine Rolle.

Greifen Sie das Thema im Zug trotzdem auf?

Wir haben bislang jedes Jahr einen Klimawagen gebaut. Aber wenn die Leute gerade nicht aufnahmefähig für ein Thema sind, dann laufen die Wagen ohne Wirkung einfach so durch. Der Mensch ist leider so, der ist eben auf die Gegenwart gepolt.

Ein bunter Fisch frisst einen kleinen mit Nazisymbol. Der kleien sagt: Wir sind das folgt. Der große: Wir sind mehr!

„Es macht Sinn, auch weiterhin die Flagge der Demokratie und der offenen Gesellschaft hochzuhalten, egal wie sehr man gerade in Defensive ist. Den Karnevalszug nutze ich hier als Medium, solange es geht“, sagt Tilly.

Wie schaffen Sie es, über die Jahrzehnte Ihrer Arbeit hinweg nicht zum Zyniker zu werden?

Diese Gefahr bestand bei mir nie. Was mir dabei hilft, ist das Wissen über lange Zyklen. Die Geschichte lehrt uns, dass alles immer in Wellen auftritt, die kommen und auch wieder gehen. Deshalb ergibt es Sinn, auch weiterhin die Flagge der Demokratie und der offenen Gesellschaft hochzuhalten, egal wie sehr man gerade in die Defensive ist. Den Karnevalszug nutze ich hier als Medium, solange es geht. Wenn wir erst mal einen Rechtsextremisten als Innenminister haben, der Zugriff auf die Sicherheitsorgane hat, kann das mit der Freiheit der Satire schneller vorbei sein, als man ahnt.

Sie werden derzeit eher von anderer Seite bedroht, wie man in der Ausstellung lernt. Wie gehen Sie mit Hass um?

Es gibt Leute, deren Hobby ist es, vor dem Computer zu sitzen und zu hassen. Das kriege ich natürlich auch ab. Ich freue mich aber über solche Reaktionen, da sie zeigen, dass meine Arbeit offensichtlich ins Schwarze trifft. Das Risiko gehört zu meinem Beruf. Meine Frau sagt immer, wenn der Job mich doch mal eines Tages das Leben kosten sollte, dann hoffentlich nur wegen eines wirklich guten Wagens. Der Sinn des Lebens ist es ja nicht, uralt zu werden, sondern der Sinn des Lebens ist es, das Richtige zu tun auf dieser Welt.

Tucholsky meinte, ein Satiriker sei ein gekränkter Idealist. Sind Sie das?

Ich bin Idealist, aber ich bin nicht gekränkt. Klar, die Welt ist nicht so, wie sie sein sollte. Das war sie noch nie. Die Weltverhältnisse sind schlecht, aber so schlecht nun auch wieder nicht. Wir in Deutschland leben immer noch in der besten Gesellschaft aller Zeiten. Die Kriminalitätsrate geht runter, auch wenn die Leute denken, es wird immer alles schlimmer und man kann gar nicht mehr auf die Straße gehen. Das ist alles Quatsch. Die Zahlen sagen ja was anderes.

Zahlen und Fakten haben es gerade besonders schwer.

Ja, es geht um Gefühle. Und gefühlt leben die Leute in einer total unsicheren Welt. Real gesehen sind sie hier so sicher wie nie zuvor.

„Die Themen menschliches Leid, Krieg und Religion waren in den 80er Jahren tabu. Da hat sich die Gesellschaft wirklich verändert“

Welche Wagen können Sie denn heute zeigen, die Sie früher nicht durchs Komitee bekommen haben?

Die Themen menschliches Leid, Krieg und Religion waren in den 80er Jahren tabu. Da hat sich die Gesellschaft wirklich verändert, sie ist sehr viel freiheitlicher und auch humorbereiter geworden.

Es gibt Menschen, die würden Ihnen in diesem Punkt widersprechen.

Ja. Ich kriege schon mit, dass es so etwas wie Wokeness-Exzesse gibt. Dabei bin ich selbst im tiefsten Kern das, was man heute woke nennt.

Inwiefern?

Ich finde es schon richtig, dass man weißen Männern wir mir klarmacht, dass sie Privilegien haben und dass ihre Leistungen nicht nur ihre eigenen sind, sondern dass sie das Resultat gesellschaftlicher Machtverhältnisse sind. Aber es gibt auch Auswüchse, die mich nicht überzeugen. Dass man zum Beispiel versucht, Jim Knopf aus Kinderbibliotheken zu nehmen, finde ich absurd. Jim Knopf ist ein antirassistisches Kinderbuch aus den 60er Jahren mit einer ganz klaren Kritik an den Nürnberger Rassegesetzen.

Da trifft das moralische Ideal auf den Zeitgeist. Man würde heute einiges etwas anders formulieren.

Mag sein. Aber es gibt bei den Woken eine inquisitorische Prangermentalität, die mich abstößt. Viele verwechseln gesellschaftliches Engagement mit Denunziantentum.

Jetzt müssen Sie so nah an den Bundestagswahlen bauen, wie nie zu vor. Was ist die größte Herausforderung?

Wir müssen eben auf den letzten Drücker bauen. Einen Wagen haben wir längst gebaut, doch bis zur Wahl war offen, welcher Politikerkopf drauf kommt. Zur Not bauen wir in der letzten Nacht noch einen Wagen.

„Zwischen Köln und Düsseldorf gibt es spürbare Unterschiede in Sachen Wagenbau“

Sind Sie im Austausch mit Köln?

Eigentlich nicht. Jeder kocht sein eigenes Süppchen. Das liegt auch daran, dass es zwischen Köln und Düsseldorf spürbare Unterschiede in Sachen Wagenbau gibt. Die Kölner haben einfach andere Vorstellungen.

Jürgen Becker wünscht sich von den Kölnern „mehr Tilly Wagen“.

Ein nettes Lob. Aber die Kölner bauen hervorragende Wagen. Dennoch gehen sie nicht über bestimmte Grenzen hinweg.

Haben Sie ein Beispiel?

Auf einem meiner Wagen im letzten Jahr kniet der oberste Patriarch der orthodoxen Kirche vor Putin nieder und ist ihm – wie soll ich sagen – sexuell zu Diensten. Würde so etwas in Köln fahren? Ich weiß es nicht. Ich würde mich freuen, wenn es einen Wettbewerb um die gemeinsten und härtesten Wagen gäbe.

Wo setzen Sie Ihre Grenzen?

Ich bemühe mich, nur die Täter, nie die Opfer zu verspotten. Manche Menschen sind aber beides. Und wenn man die Täter veräppelt, besteht die Gefahr, ihre Taten zu verharmlosen.

Jaques Tilly ist in der Ausstellung im Stadtmuseum zu sehen.

Das Stadtmuseum Düsseldorf zeigt noch bis zum 10. August eine Retrospektive des Düsseldorfer Künstlers Jacques Tilly.

Ist Ihnen das schon mal vorgeworfen worden?

Ich habe 2011 den ehemaligen Verteidigungsminister zu Guttenberg gebaut, wie er – kurz nach seinem Rücktritt – im Düsenjet ins Kanzleramt fliegt und schrieb darunter: „Merkels 11. September“. Und das war schon heftig. Und es war eine Verharmlosung des Terrorattentats. Das würde ich heute nicht mehr tun. Es ist aber grundsätzlich so, dass die Menschen mir viel durchgehen lassen, weil sie wissen, im nächsten Jahr sind eben die anderen dran. Bei uns wird niemand bevorzugt, indem er verschont wird.

Wo finden Sie denn nun das Maß an Heiterkeit, die Sie und wir alle doch irgendwie brauchen? Karneval soll ja auch in Düsseldorf eine unterhaltsame Veranstaltung sein.

Man sagt zwar, die Hoffnung stirbt zuletzt, bei mir aber wird wohl der Humor zuletzt sterben. Es gibt vom Schriftsteller Ernst Penzoldt ein Zitat, das es auf den Punkt bringt: „Wer sich mit Humor wappnet, ist praktisch unverwundbar.“


Tilly-Ausstellung

Das Stadtmuseum Düsseldorf zeigt noch bis zum 10. August eine Retrospektive des Düsseldorfer Künstlers Jacques Tilly. Zu sehen sind seine Kinderzeichnungen, die Arbeiten zum Thema Kunst und Politik, Skulpturen und Motive, die auch jenseits des Karnevals zum Beispiel für Demonstrationen in aller Welt genutzt wurden und immer noch genutzt werden.www.düsseldorf.de/stadtmuseum