AboAbonnieren

Exklusiv

Ehrenamt in NRW
Die Arbeit der Freiwilligen entspricht einem Wert von 20,9 Milliarden Euro pro Jahr

Lesezeit 5 Minuten
Die 55-Jährige Sabrije Kelmendi betreut und begleitet ehrenamtlich Frauen in Köln, die aus Ex-Jugoslawien stammen und die deutsche Sprache noch nicht beherrschen.ert

Die 55-Jährige Sabrije Kelmendi betreut und begleitet ehrenamtlich Frauen in Köln, die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen und die deutsche Sprache noch nicht beherrschen.

Der ökonomische Wert vom Ehrenamt ist gigantisch und wird trotzdem oft unterschätzt. Drei Menschen, die freiwillig helfen, erzählen von ihrer Arbeit und ihrer Motivation.

Es scheint, als würde Sabrije Kelmendi die Frage nicht verstehen. „Hm, warum ich ehrenamtlich arbeite?“, wiederholt die Kosovarin sichtlich verblüfft. „Das ist doch normal, oder?“, stellt sie die Gegenfrage und beantwortet diese gleich selbst. „Ich möchte denen, die nicht gesehen werden, durch mein Engagement eine Stimme geben“, sagt sie. Und ergänzt nach kurzem Nachdenken: „Es füllt mein Herz, wenn ich dann beobachte, wie diese Menschen dann weiterkommen.“

Kelmendi begleitet Migrantinnen, die aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland gekommen sind und allein nicht zurechtkommen. Sie spricht albanisch und serbokroatisch, übersetzt beispielsweise beim Arzt oder beim Ausländeramt. Vor 32 Jahren ist die heute 56-Jährige aus dem Kosovo geflüchtet. Wenn sie von der Unterdrückung und den Misshandlungen der damaligen Besatzer berichtet, kommen ihr heute noch die Tränen. Hochschwanger, als sie kurz vor der Entbindung in eine Klinik kam, habe eine Krankenschwester ihr in den Bauch getreten, erzählt sie. Oder von schmerzhaftesten medizinischen Behandlungen, ohne Betäubungsmittel. Die Anästhetika seien für Albaner nicht vorgesehen, habe der Arzt ihr damals gesagt.

„Ich hatte das Gefühl, etwas zurückgeben zu müssen“

In Köln angekommen, habe sie sich dann gut aufgehoben gefühlt. „Wir waren sicher, hatten ein Dach über dem Kopf und es wurde sich rührend gekümmert um mich und meine Kinder“, sagt sie: „Und da hatte ich schnell das Gefühl, etwas zurückgeben zu müssen für all die Hilfe – auch deshalb unterstütze ich jetzt andere Frauen.“

Auch Brunilda Metushi (rechts) hat Sabrije Kelmendi jahrelang betreut, als sie nach Köln gekommen ist.

Auch Brunilda Metushi (rechts) hat Sabrije Kelmendi jahrelang betreut, als sie nach Köln gekommen ist.

Ob im Sportverein, bei der Freiwilligen Feuerwehr oder in der Nachbarschaftshilfe: Mehr als die Hälfte der Erwachsenen in Nordrhein-Westfalen engagiert sich derzeit ehrenamtlich. Mit 54 Prozent sind es vier Prozentpunkte mehr als bei der ersten Erhebung 2022, wie aus dem in Essen vorgestellten Ehrenamt-Atlas 2024 hervorgeht.

Durchschnittlich 208 Stunden Ehrenamt pro Jahr

Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat dafür Anfang des Jahres rund 10 000 Menschen – mindestens 200 pro Kreis oder kreisfreier Stadt – in NRW ab 18 Jahren repräsentativ befragt. Der digitale Atlas zeigt für die 53 Kreise und kreisfreien Städte den Prozentsatz der ehrenamtlich Engagierten, deren zeitlichen Aufwand und den wirtschaftlichen Gegenwert. Durchschnittlich leistet ein Freiwilliger in NRW demnach jährlich 208 Stunden Arbeit. Dies entspricht einem wirtschaftlichen Wert von 20,9 Milliarden Euro. Grundlage der Berechnung ist der aktuelle Mindestlohn.

In Köln mit einer Ehrenamt-Quote von 45 Prozent und durchschnittlich 172 Stunden pro Person und Jahr ergibt dies der Umfrage zufolge einen Gegenwert von 870 Millionen Euro. Im Rhein-Erft-Kreis (48 Prozent, 172 Stunden) sind es 596,1 Millionen Euro, im Rheinisch-Bergischen-Kreis (58 Prozent, 317 Stunden) 541,5 Millionen Euro und in Euskirchen (54 Prozent, 218 Stunden) 239,1 Millionen Euro.

Kölner Ehrenamtlerin begleitet einen Mann mit Demenz

Pauline Zienow sei das Ehrenamt „so zugeflogen“, sagt sie. Im Januar ist die junge Frau nach Köln gezogen, nachdem sie in Göttingen die Uni abgeschlossen hatte. In einem Kiosk in der Südstadt, wo sie wohnt, hing ein Flyer von „Duo“, einem Besuchsdienst für Menschen mit Demenz von der Kölner Freiwilligen Agentur und dem ASB Köln. Das habe sie gleich gepackt.

„Generell begeistert mich der Austausch mit anderen Generationen“, sagt die Kölner Ehrenamtlerin. Da ihre Großeltern früh verstorben seien, habe sie das als Kind nicht gehabt. Auch das habe sie dazu motiviert, das Ehrenamt aufzunehmen.

Eine Frau sitzt an einem Tisch an einer Straße.

Pauline Zienow begleitet einen 80-Jährigen, der demenziell erkrankt ist, zu einem Malkurs.

Nach einem Infoabend absolvierte sie an zwei Wochenenden einen Qualifikations- sowie einen Erste-Hilfe-Kurs. Mittlerweile begleitet sie einen 80-Jährigen, der an Demenz erkrankt ist und eine Sprachstörung hat. Sie fahren gemeinsam mit Bus und Bahn zu einem Malkurs. Dem Mann falle es sehr schwer, Worte zu finden, sagt die 26-Jährige. Wobei, auf dem Rückweg vom Malkurs funktioniere das manchmal etwas besser: „Ich merke schon, wenn wir uns verabschieden, dass er viel gelöster ist und sich gefreut hat, dass wir rausgegangen sind“, so Zienow. Das berühre und „erfülle“ sie.

Die Hälfte der Ehrenamtler fühlen sich oft nicht wertgeschätzt

Fast die Hälfte der Freiwilligen in NRW fühlt sich jedoch „weniger“ bis „gar nicht“ gesellschaftlich wertgeschätzt. Das hat die Forsa-Umfrage ergeben. WestLotto-Geschäftsführer Andreas Kötte findet das beunruhigend. Sein Unternehmen, das dem Land NRW gehört, hatte den Atlas im vergangenen Jahr ins Leben gerufen. „Das Ehrenamt benötigt die Rückendeckung aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gleichermaßen“, betont Kötte.

„Wir registrieren aber auch jede Menge positive Rückmeldungen und öffentliche Anerkennung“, sagt Gabi Klein von der Kölner Freiwilligen Agentur. Der gemeinnützige Verein betreut und vermittelt Ehrenamtler, Freiwilligendienstleistende und sozial engagierte Unternehmen. In Köln arbeitet die Agentur mit etwa 600 gemeinnützigen Organisationen zusammen. Im vergangenen Jahr wurden von dem Verein, der sich durch Spenden, öffentliche und Stiftungs-Gelder finanziert, 1138 Interessenten vermittelt.

Kölner Freiwilligen Agentur hat 1138 Ehrenamtler vermittelt

Anerkennung für diese Menschen bedeute auch, „dass der Zugang zum Engagement erleichtert wird, etwa durch hauptamtliche Vermittlungsstrukturen, wie wir und viele andere Freiwilligenagentur sie dank öffentlicher Förderung bereitstellen können“, so Klein. Ob eine Reihe von Projekten der Agentur, etwa die intensive Patenschaft für Flüchtlingskinder, im nächsten Jahr weitergehen, sei derzeit nicht klar.

Denn im Haushalt der Stadt Köln werden Kürzungen nötig sein. Damit fehle auch bei der Ehrenamtsbetreuung derzeit „die dringend notwendige Zusage für die Finanzierung von Planstellen“, sagt Klein: „Hier braucht es eine langfristige und verlässliche Förderung durch die öffentliche Hand, um diese Strukturen vor oder im Engagement aufrechtzuerhalten und vielleicht auch in manchen Regionen aufzubauen.“

Ehrenamtler aus Rhein-Erft berät Verpächter landwirtschaftlicher Flächen für mehr Naturschutz

Martin Wölfle aus Erftstadt ist seit Herbst 2022 ehrenamtlich für „Fairpachten“ aktiv. Das ist ein kostenloses Beratungsangebot des Nabu-Bundesverbandes für Verpächterinnen und Verpächter, die auf ihren landwirtschaftlichen Flächen mehr Naturschutz wünschen. Für seine Beratungsgespräche recherchierte der Ingenieur aus der Automobilindustrie zum Beispiel über Luftbilder oder Online-Datenbanken, was historisch auf der zu verpachtenden Fläche war, dortige Arten oder auch die Bodenqualität.

Ein Mann sitzt im Freien vor einer roten Wand.

Martin Wölfle berät für den Nabu Grundbesitzer landwirtschaftlicher Flächen zu Naturschutz.

„Ich fand die Idee, Menschen zu unterstützen, die mit ihrem Land etwas Positives und Nachhaltiges bewirken wollen, großartig“, sagt der 61-Jährige und lächelt. „Auch, dass ich dazu etwas beitragen kann, obwohl ich selbst kein Land besitze.“