In NRW gibt es so wenig Studienanfänger wie seit 2010 nicht mehr. Daran ist nicht nur der demografische Wandel Schuld, wie zwei Experten erklären.
FachkräftemangelWarum in NRW immer weniger junge Menschen ein Studium beginnen
Wenn in deutschen Talkshows über Bildung diskutiert wird, fällt früher oder später das Schlagwort „Akademikerschwemme“. Die Klage geht so: Zu viele junge Menschen würden sich für ein jahrelanges Studium einschreiben, das am Arbeitsmarkt im Zweifel wertlos sei, anstatt sich für dringend gebrauchte Ausbildungsberufe zu entscheiden. Schaut man auf die aktuellsten Zahlen des Landesamts für Statistik Nordrhein-Westfalen zu Studienanfängern in Nordrhein-Westfalen, bleibt von dieser Warnung nicht viel übrig. Im vergangenen Jahr haben rund 103.000 Menschen in NRW ein Studium begonnen, das sind fast 30.000 weniger als 2013, als der G8-Doppeljahrgang in die Universitäten strömte. Seit 2013 gingen die Zahlen konstant nach unten. So wenig Studienanfänger wie im vergangenen Jahr gab es zuletzt 2010.
Woran liegt das? Haben die Imagekampagnen des Handwerks gefruchtet? Schlüpfen Abiturienten jetzt doch lieber in den Blaumann, anstatt ihre Zeit im Hörsaal zu verbringen? Und was bedeuten die Zahlen für die Universitäten in NRW?
Geburtenrückgang allein kann Studentenschwund in NRW nicht erklären
Der wichtigste Grund für den Studentenrückgang ist laut Marc Hüsch, Datenanalytiker am Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), der demographische Wandel: „Der Einfluss ist sehr groß. Seit Anfang der 90er Jahre sind die Geburtenzahlen nochmal deutlich zurückgegangen.“ In Westdeutschland sind Anfang der 90er noch etwa 700.000 Kinder pro Jahr geboren worden, Anfang der 2010er Jahre waren es nur noch etwa 550.000. „Das hat natürlich zur Folge, dass jetzt weniger Menschen Abitur machen und dementsprechend auch in die Uni gehen.“
Hüsch hat für das CHE bereits im April eine Auswertung zum Studentenschwund in Deutschland vorgelegt. Demnach liegt NRW voll im Trend, denn die Zahlen sinken bundesweit. „Bis auf wenige Ausnahmen wie Berlin und Hamburg gehen die Studentenzahlen in allen Bundesländern zurück. In absoluten Zahlen weist Nordrhein-Westfalen sogar den größten Verlust auf, was aber auch daran liegt, dass es das einwohnerstärkste Bundesland ist.“ Fast alle großen Hochschulen des Landes verzeichnen weniger Zulauf als noch ein Jahr zuvor. So etwa die Technische Hochschule Aachen, die Universität Bonn oder die Fernuni Hagen. An den Unis in Köln und Bochum sind die Immatrikulationen zuletzt zwar wieder etwas gestiegen, doch insgesamt schrumpft auch hier die Anzahl der Studierenden.
Der Geburtenrückgang allein kann den Studentenschwund allerdings nicht erklären. Denn nicht nur die absolute Zahl der Studienanfänger eines Jahrgangs geht zurück, auch anteilig fällen immer weniger Menschen mit Hochschulzulassung die Entscheidung, sich an der Uni einzuschreiben. Die Quote sank laut Landesamt für Statistik in NRW von 63,5 Prozent im Jahr 2013 auf 54,5 Prozent im Jahr 2021. „Es ist gar nicht so einfach zu sagen, was diese Menschen stattdessen machen. Denn sowohl die Zahlen beim Freiwilligen Sozialen Jahr als auch die Auszubildendenzahlen sind gesunken“, sagt Hüsch.
Und doch: Zwar sinkt auch die absolute Zahl der Auszubildenden in NRW, doch der Anteil der Abiturienten, der sich gegen den Hörsaal und für eine Ausbildung entscheidet, wird seit Jahren größer. Das zeigt die Studie „Monitor Ausbildungschancen 2023“ des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie. Dort ist die Berechnungsgrundlage etwas anders als beim Statistischen Landesamt. So werden hier zum Beispiel auch Auszubildende im dualen System zu den Auszubildenden gezählt, die beim Statistischen Landesamt unter die Studierenden fallen.
„Ausbildungsbetriebe haben sich auf Abiturienten gestürzt“
„In Nordrhein-Westfalen entscheiden sich mittlerweile fast zwei von drei Abiturienten eines Jahrgangs für eine Ausbildung. Das ist deutschlandweit eine der höchsten Quoten. Seit 2006 hat sich diese Zahl ungefähr verdoppelt“, sagt Dieter Dohmen, Leiter der Studie. Das habe verschiedene Gründe. Einer davon liege in den Berufsschulen: Dort würden mittlerweile viele Schüler Abitur machen, aber tendenziell trotzdem eher eine Ausbildung anstreben. Außerdem würden die Bildungswege heutzutage komplexer verlaufen. „Viele entscheiden sich etwa zunächst für eine Ausbildung, um später noch ein Studium hinterherzuschieben.“
Dohmen macht aber auch den Diskurs um die Akademikerschwemme für den Trend verantwortlich: „Die Debatte hat dazu geführt, dass sich die Betriebe zunehmend auf Abiturienten gestürzt haben, etwa mit der dualen Ausbildung, von der ich grundsätzlich auch viel halte.“
Der Zulauf von Abiturienten auf Ausbildungen habe aber auch eine Kehrseite: „Jugendliche mit niedrigeren Schulabschlüssen, gerade auch in Nordrhein-Westfalen, haben zunehmend Probleme, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.“
Hüsch: Auch Universitäten sind in der Pflicht
Jugendliche ohne Abitur würden von Ausbildungsbetrieben zu selten in Erwägung gezogen – und das, obwohl aufgrund des Fachkräftemangels trotz des Abiturientenansturms viele Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben. Dohmen fordert Unterstützungsmaßnahmen für Jugendliche und Betriebe, damit beide Seiten wieder besser zueinander finden. „Das ist auch ein kulturelles Problem. Ausbildungsbetriebe und Jugendliche leben oft in ganz verschiedenen Welten. Und das verstärkt sich, je niedriger der Bildungsabschluss ausfällt.“
Fest steht für ihn jedenfalls: „Wir brauchen sowohl mehr Studenten, als auch mehr Auszubildende, um den Fachkräftemangel zu bewältigen.“ Marc Hüsch vom CHE sieht dabei auch die Hochschulen in der Pflicht: „Die Zahl der Studienanfänger geht je nach Fachrichtung stark auseinander.“ Während beispielsweise die Einschreibungen für Informatik nach oben gehen, sind die Zahlen laut CHE-Studie im Maschinenbau in den letzten Jahren um über 30 Prozent zurückgegangen. „Die Universitäten, aber auch die Verbände, müssen stärker für die Studienfächer werben. Gerade im MINT-Bereich. Der Frauenanteil in diesen Fächern etwa ist immer noch sehr gering, da gibt es noch viel Potenzial.“ Zusätzlich müsste auch gezielt im Ausland um Studenten geworben werden, so Hüsch.
Immerhin eine gute Nachricht gebe es: „Die Geburtenzahlen sind nach 2010 wieder leicht angestiegen, wir können also damit rechnen, dass wir in fünf bis zehn Jahren allein wegen des demographischen Wandels wieder mehr Studierende haben.“ Doch ob das allein ausreicht, um den Fachkräftemangel auszugleichen, ist fraglich.