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Karenztage, ArbeitsbelastungDer Krankenstand in NRW steigt – Woran liegt das eigentlich?

Lesezeit 6 Minuten
ARCHIV - 18.11.2022, Baden-Württemberg, Stuttgart: Viele Atemwegsinfektionen treiben in Herbst und Winter die Krankenstände nach oben - das führt häufig zur Überlastung der Gesunden. (zu dpa: «KKH: Krankschreibungen in Niedersachsen auf Höchststand») Foto: Bernd Weißbrod/dpa/dpa-tmn +++ dpa-Bildfunk +++

Die Zahl der Krankentage steigt seit den Corona-Jahren an.

Die Wirtschaft stöhnt unter hohen Lohnfortzahlungskosten. Die Krankentage steigen. Werden wir wirklich häufiger krank?

Wäre die Zahl ein Berg, sie würde zu den massiveren Gebirgen gehören und einen beschwerlichen Anstieg versprechen: 76,7 Milliarden Euro haben laut Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln deutsche Arbeitgeber im Jahr 2023 für Entgeltfortzahlungen im Krankheitsfall ausgegeben.

Damit haben sich die Kosten für kranke Arbeitnehmer binnen 14 Jahren verdoppelt. Dass Arbeitnehmer in den ersten sechs Wochen der Krankheit ihr volles Gehalt erhalten, ehe sie dann ins Krankengeld übergehen, das bei etwa 70 Prozent des Netto-Einkommens liegt, ist also eine teure Errungenschaft des Sozialstaats.

An der sich in Zeiten der Krise vielleicht sparen lasse, schlug unlängst der Allianz-Chef Oliver Bäte vor. Ein Karenztag, also ein Lohnausfall am ersten Krankheitstag, würde die Arbeitgeber entlasten, so der Versicherungsvorstand. Ist der Vorschlag sinnvoll? Wir beantworten die wichtigsten Fragen.

Wie hoch ist der Krankenstand in NRW?

In Nordrhein-Westfalen waren nach Zahlen der Techniker Krankenkasse Versicherte im Schnitt 18,67 Tage in den ersten elf Monaten des Jahres 2024 krankgeschrieben. Mit 5,55 Prozent Krankenstand lag NRW leicht über dem Bundesschnitt, der bei der Techniker mit 5,3 Prozent und 17,6 Krankentagen einen neuen Rekord erreicht hatte. Auch in NRW hat sich die Zahl der Tage, an welchen Arbeitnehmer mit Husten, Schnupfen oder anderen Leiden im Bett bleiben, statt im Büro zu erscheinen erhöht. Im Vor-Corona-Jahr zählte die TK hier nur 14,1 Fehltage.

Wie krank sind Arbeitnehmer in NRW verglichen mit Beschäftigten in anderen Bundesländern?

Laut Zahlen der Barmer Ersatzkasse liegt Nordrhein-Westfalen beim Krankenstand bundesweit im Mittelfeld. Die meisten Krankentage sammelten demnach im Jahr 2023 die Sachsen-Anhaltiner Versicherten mit fast 30 Arbeitsunfähigkeitstagen je Versichertenjahr. Dahinter folgten die Thüringer sowie die Versicherten aus Mecklenburg-Vorpommern (je 28,9), die Brandenburger (28,5) sowie die Saarländer (28,0). Am wenigsten Krankentage gab es den Daten zufolge in Baden-Württemberg (19,9) sowie in Bayern (20,7).

In NRW zählte man bei der Barmer im Schnitt 25 Krankentage pro Versichertenjahr. Guckt man sich Zahlen der AOK-Rheinland/Hamburg an, die bis in die Kommunen auswerten, fällt auf, dass die Menschen in Mönchengladbach mit 8,1 Prozent einen deutlich höheren Krankenstand aufweisen als beispielsweise in Bonn (6,1 Prozent). Auch die Kölner liegen mit 6,7 Prozent eher am unteren Ende der Skala.

Sind Kurzzeit-Krankschreibungen schuld am hohen Krankenstand?

Die Streichung der Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag, wie der Allianz-Chef sie vorschlug, richtete sich im Subtext auch gegen Menschen, die krankfeiern, also nicht zur Arbeit erscheinen, obwohl sie gesundheitlich womöglich dazu in der Lage wären. Ein finanzieller Verlust könnte die Arbeitsmoral – so der Ansatz – hier möglicherweise etwas steigern.

Aber fallen die Kurzzeitkrankschreibungen finanziell überhaupt ins Gewicht? Eher nicht, sagt ein Sprecher der Techniker Krankenkasse dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Schaut man sich die Fehlzeitenstatistiken genauer an, dann stellt man fest, dass Kurzzeitkrankschreibungen, wie zum Beispiel bei einer Erkältung oder Grippe, zwar relativ häufig vorkommen. Allerdings machen diese nur einen kleinen Anteil an den Gesamt-Fehltagen aus. Langfristige Krankschreibungen sind seltener, fallen aber durch die längere Dauer deutlich mehr ins Gewicht.“

In Zahlen: Im Jahr 2023 dauerten 35,1 Prozent aller Arbeitsunfähigkeits-Meldungen bei der Techniker Krankenkasse weniger als vier Tage. Sie machten damit aber nur 6,5 Prozent der Fehltage aus. Demgegenüber entfielen auf die 3,5 Prozent der Krankmeldungen mit einer Dauer von mehr als sechs Wochen, mit 43,8 Prozent fast die Hälfte aller gemeldeten Fehlzeiten. Um die Kosten zu senken, würde es also mehr Sinn ergeben, die Zahl der chronisch Kranken zu verringern. Das ließe sich nach Meinung von Experten durch bessere Arbeitsbedingungen erreichen.

Sabine Deutscher, Vorstand bei der AOK Rheinland/Hamburg, schlägt Firmen vor, sich aktiv dafür einsetzen, die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden langfristig zu erhalten. „Hierbei spielt die Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) eine wichtige Rolle. Durch BGF-Maßnahmen können Arbeitgebende dazu beitragen, ein gesundheitsförderliches Arbeitsumfeld zu schaffen und die Mitarbeiterbindung zu stärken“, sagte Deutscher dieser Zeitung.

Welche Branchen sind in NRW besonders betroffen?

Auf diesen Umstand könnte auch die Tatsache hindeuten, dass Beschäftigte in besonders anstrengenden Berufen mit hohem Fachkräftemangel sowie hoher körperlicher Belastung häufiger krank werden. Nach Zahlen der AOK-Rheinland/Hamburg wiesen Beschäftigte in der Pflegebranche im Jahr 2023 mit knapp zehn Prozent den höchsten Krankenstand aller Berufsgruppen auf.

Arbeitnehmer in der Metallerzeugung sowie in der Ver- und Entsorgen folgten auf dem Fuß. Besonders selten krank waren dagegen Menschen im Gastgewerbe, Dienstleister sowie in der Branche Kommunikation und Information (knapp fünf Prozent).

Was sind die Gründe für den Anstieg des Krankenstands seit Corona?

Einen der Hauptgründe sieht man bei der Techniker Krankenkasse im Anstieg an Erkältungsdiagnosen. Das Immunsystem habe sich nach der langen Pause während der Pandemie erneut mit Infektionserregern auseinandersetzen müssen. Darüber hinaus sei mit Covid-19 ein weiterer Erreger dazugekommen. Zudem gingen viele Menschen seit der Coronapandemie sensibler mit dem Thema Ansteckung um und „melden sich eher krank, um ihre Kolleginnen und Kollegen nicht anzustecken und sich gründlich auszukurieren“, so ein Sprecher der TK.

Was vielfach nicht bedacht wird: Vielleicht sind reell gar nicht so viel mehr Menschen krank als früher, vielleicht schlägt sich lediglich in den Daten jede Krankheit nieder, während früher einige durchs Raster fielen. „Mit Einführung der digitalen Krankmeldung 2021 werden mittlerweile alle Krankschreibungen auf digitalem Wege von den Arztpraxen zu den Krankenkassen weitergeleitet. Vorher mussten das die Versicherten selbst machen und haben das bei Kurzzeiterkrankungen nicht immer getan“, so der Sprecher der Krankenkasse.

Betrachtet man die Zahlenbalken der Barmer-Ersatzkasse im Jahresvergleich, dann scheint diese Argumentation zuzutreffen. Lagen in den Corona-Jahren 2020 und 2021 die Krankentage in NRW bei 20,0 bzw. 19,3, so schossen sie im Jahr nach Einführung der digitalen Erfassung (1.Oktober 2021) 2022 auf 24,5 bzw. 25,0. Dieser Sprung um etwa 20 Prozent zeigt sich in allen Bundesländer gleichermaßen.

Wie bewerten Kölner Wirtschaftswissenschaftler die Sparvorschläge rund um den Krankenstand?

Jochen Pimpertz vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln mahnt zu Besonnenheit. Der Krankenstand steige zwar latent, aber zuletzt nicht signifikant gegenüber dem Vorjahr. Ein Eingreifen des Gesetzgebers sieht er deshalb derzeit als übereilt. „Natürlich kann man darüber nachdenken, die Last der Lohnfortzahlungen anders zu verteilen und die Arbeitgeber hier zu entlasten. Aber am Ende läuft ein solches Vorhaben Gefahr, dann wie in den 90er Jahren in den Tarifverhandlungen zu landen“, sagt Pimpertz im Gespräch dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Nachdem der damalige Kanzler Helmut Kohl (CDU) mit dem FDP-Koalitionspartner seinerzeit die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf 80 Prozent kürzte, drohten die Gewerkschaften mit Arbeitszeitverkürzungen und erstreikten für neun Millionen Beschäftigte eine volle Lohnfortzahlung.

Gesundheitsprämien für Arbeitnehmer, die sich gar nicht krankmelden, wie die FDP das im Zuge der Debatte vorgeschlagen hat, sind nach Pimpertz Meinung auch nicht in jedem Fall sinnvoll. „Es ist fraglich, ob alle Chefs Interesse daran haben, dass sich die Mitarbeiter aus monetären Gründen in die Betriebe schleppen, obwohl sie krank sind“, so Pimpertz. Eine solche Regelung könnten Unternehmer überdies einfach ohne gesetzliche Neuregelungen umsetzen, wenn das für ihren Betrieb sinnvoll erscheine.