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Kommentar

Kolumne
Wie man gut altert? Mit fluffigem Haar und goldenen Pumps

Ein Kommentar von
Lesezeit 4 Minuten
Golden lady shoes closeup isolated.

Passen hervorragend auch zum Stock: Goldene Pumps.

Älterwerden hat nicht den besten Ruf. Dabei hat der Fortschritt an Jahren viele Vorteile.

Als meine Großmutter Anni knapp 90 Jahre alt war, stürzte sie und brach sich den Oberschenkelhals. Meine Eltern besorgten ihr einen Rollator, der in meiner Erinnerung allerdings fortan nur die winzige Toilette im Erdgeschoss ihres Reihenhauses verstopfte. Meine Großmutter weigerte sich beharrlich, das Ding auszuführen. Sie übte stattdessen mit einer gewissen verbissenen Fröhlichkeit das Spazierengehen am Stock. Denn: „Der Rollator und meine goldenen Pumps, wie sieht das denn zusammen aus? Ich mache mich doch nicht lächerlich.“

Dass meine Großmutter goldene Pumps trug, ganz ungeachtet der Jahreszahlen, die sich da im Laufe eines Lebens so anhäufen, das ist in meiner Erinnerung Gesetz. Ebenso dass sie einmal wöchentlich zum Friseur pilgerte, damit das blond-silberne Haar stets fluffig lag. Weil dieser Service im Seniorenheim, in das sie für ihre letzten Jahren zog, nur zweiwöchentlich angeboten wurde, musste mein Vater sie in den Zwischenwochen zum Waschen und Legen in die Stadt kutschieren. Früher kam mir meine Großmutter deshalb zuweilen exzentrisch vor. Je älter ich selbst werde, desto öfter feiere ich sie für ihre Sturheit, mit der sie das Immer-weiter-in-die-Fernerücken ihres Geburtsjahrs einfach ignorierte.

Kurvendiskussion mit 75? Könnte besser klappen als mit 15!

Die Wissenschaft hat das Verhalten meiner Großmutter mit einigen Studien untermauert. Demnach mehren sich die Hinweise darauf, dass das subjektiv gefühlte Alter beeinflusst, wie schnell jemand biologisch altert. Menschen, die sich jünger fühlen als sie sind und generell dem Alter positiv gegenüberstehen, leben im Schnitt siebenhalb Jahre länger. Und tatsächlich besteht ja gar nicht ausschließlich Grund für Griesgram. Birgt das Älterwerden doch auch viele Vorteile. Das Gehirn zum Beispiel ist lebenslang fähig, die Effizienz der Zusammenarbeit zwischen seinen Abermilliarden Nervenzellen zu verbessern und neue Verbindungen aufzubauen. Wer also mit 15 die Kurvendiskussion oder das Gerundium nicht verstanden hat, tut gut daran, sich mit 75 Jahren nochmal dranzusetzen. Vielleicht führen da Nervenverbindungen zu Lösungen, die im jugendlichen Kopf schlicht noch gar nicht denkbar waren. Das reife Gehirn hat also durchaus Potenzial überraschend neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Und auch körperlich birgt das Alter seine Chancen. Natürlich, nach einem Zehn-Kilometer-Lauf schmerzt plötzlich der Fuß, das nachmittägliche Stück Käsekuchen verewigt sich in einer Speckfalte über dem Hosenbund und auch die Wangenpartie gibt im Kampf gegen die Schwerkraft irgendwann klein bei. Der Körper verfällt, machen wir uns nichts vor. Und doch kann man der Zunahme an Makeln auch etwas Positives abgewinnen. Denn was nützt die ganze pralle Jugend, wenn man sie vor lauter Selbstoptimierungswahn gar nicht genießen kann? Wenn ich mir alte Fotos ansehe, bin ich immer ganz überrascht, wie durchaus schön ich mit 25 einmal war. Und erinnere mich gleichzeitig an das Gefühl, wie fett und hässlich ich mir damals vorkam. Die Fesseln zu dick, der Busen zu klein, die Nase zu breit, das Haar zu dünn. Irgendwelche Schwachstellen fand man ja immer. Und heute? Der Druck ist raus. So schön muss man schließlich gar nicht sein. Und auch gar nicht so erfolgreich. Wenn ich früher zum Bahnenziehen ins Schwimmbecken stieg, dann quälten mich all diese Komparative: Schneller wollte ich werden, stärker, dünner. Jedenfalls keinesfalls so sein, wie ich war. Heute schnüre ich die Laufschuhe und freue mich: Über die Auszeit, die frische Luft, aber in erster Linie darüber, dass ich zwei funktionierende Beine habe, dass ich am Leben bin. Was ein Glück.

Überhaupt Dankbarkeit. Sie scheint ihre große Stunde just dann zu haben, wenn der Überfluss zur Neige geht. Dem Älterwerdenden kommt sie dennoch meist zur rechten Zeit. Ab dem 50. Geburtstag mag man seinen körperlichen Höhepunkt schon hinter sich haben, auf dem Weg zum Gipfel der Zufriedenheit geht die Bergfahrt aber erst los. Im hohen Alter, sagen Wissenschaftler, sind Menschen dann tatsächlich wieder ebenso rundum zufrieden wie in ihrer Kindheit.

Ich persönlich freue mich aufs Älterwerden. Darauf, großzügig altersbedingte Schwächen eingestehen zu können. Nicht mehr alle Kämpfe ausfechten zu müssen. Aber auch darauf, mich unpassend jung aufführen zu können, wenn mir danach ist. Ich werde dann an meine Großmutter Anni denken, die sich immer wehrte, wenn jemand versuchte, sie mit ihrem Rollator in eine unsichtbare Ecke zu schieben, an den Rand des Geschehens. Sie ist einfach immer in der Mitte sitzen geblieben. Mit fluffigem Haar und goldenen Pumps. Tun Sie das bitte auch!