Der Nabu-NRW beklagt den geplanten Bau einer Windkraftanlage mitten im Schutzgebiet. Deutschland droht ein Vertragsverletzungsverfahren.
Mangelhafter SchutzEU setzt NRW unter Druck – „Zahl geschützter Vogelarten erheblich zurückgegangen“
Ein kleines Kiebitzküken mit grau-schwarzem Gefieder versteckt sich im Dickicht, Dutzende Wildgänse fliegen über die grünen Felder und eine Graugans-Mama stakst mit drei hellgelben Baby-Gänsen durchs Gras: Am unteren Niederrhein mit seinen vom Rhein gespeisten Gewässern und Feuchtwiesen haben sich zahlreiche Vogelarten angesiedelt, die es nur noch in wenigen Gebieten Deutschlands gibt. Auch weil die mehr als 16 Arten, darunter etwa die Trauerseeschwalbe, das Blaukehlchen oder der Weißstorch, bedroht sind, hat die EU-Kommission jetzt ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet.
Die Bundesrepublik habe die schon vor einigen Jahren angeordneten Maßnahmen zur Erhaltung wild lebender Vogelarten in mehreren Bundesländern nicht hinreichend umgesetzt, teilte die Brüsseler Behörde mit. Dies habe zu einem deutlichen Rückgang der Populationen geführt. Konkret nennt die Kommission aber lediglich die Missstände im Vogelschutzgebiet Unterer Niederrhein in Nordrhein-Westfalen. Dies sei „nicht ausreichend geschützt“ worden, weshalb „die Zahl der geschützten Vogelarten erheblich zurückgegangen“ sei, heißt es in dem EU-Dokument.
„Zahl der geschützten Vogelarten erheblich zurückgegangen“
Das Areal, deren elf Bereiche mit insgesamt fast 260 Quadratkilometern im Stadtgebiet von Duisburg sowie in den Kreisen Kleve und Wesel liegen, ist das zweitgrößte Vogelschutzgebiet Nordrhein-Westfalens. Als „Deichvor- bzw. Deichhinterland des Rheins mit typischer, historisch gewachsener Stromtal-Kulturlandschaft, im Spätsommer häufig trocken fallenden Sand- und Schlickufern, ausgedehnten, episodisch überschwemmten Grünlandflächen (Weiden und Mähweiden)“ habe das Gebiet „herausragende Bedeutung für viele hier brütende Vogelarten“, heißt es beim Naturschutzbund (Nabu) Deutschland. Zudem werde der Bereich von zahlreichen Vögeln zur Rast oder Überwinterung genutzt.
Anders als bei Naturschutzgebieten, die nach nationalem Recht ausgewiesen werden, gibt es bei den Schutzgebieten nach europäischem Recht eine Verpflichtung, diese in einen guten Zustand zu bringen oder zu halten. Deshalb sei auch NRW jetzt dafür zuständig, „die derzeitige Situation zu korrigieren“, heißt es beim Nabu-NRW. Das bedeute beispielsweise, dass die Gewässer, Sümpfe und Wiesen wieder in einen „naturnäheren Zustand versetzt“ werden müssten. Durch die Begradigung des Rheins seien zahlreiche anliegende Feuchtgebiete ausgetrocknet, weil der Grundwasserpegel sinke. Verstärkt werde dies zum einen „durch das gezielte Ableiten von Wasser aus den feuchten Gebieten“, um sie landwirtschaftlich besser nutzen zu können, und zum anderen durch die Klimaerhitzung.
Naturschutzbund klagt gegen geplante Windkraftanlage
„Und zu allem Überfluss ist jetzt auch noch der Bau einer Windkraftanlage mitten im Schutzgebiet geplant“, kritisiert die nordrhein-westfälische Nabu-Vorsitzende Heide Naderer. Gegen die Anlage hat die Naturschutzorganisation vor Kurzem eine Klage eingereicht. Das sei ein „entscheidender Schritt“ gewesen, „um den Schutz der biologischen Vielfalt zu gewährleisten sowie Deutschland und NRW zur Einhaltung seiner internationalen Verpflichtungen zu bewegen“. Das Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission unterstreiche „die Dringlichkeit“.
Die schon lange vorgesehen Maßnahmen würden unzureichend umgesetzt, so Naderer: „Dies zeigt, dass die Verantwortlichen die internationalen Verpflichtungen entweder nicht kennen oder ignorieren.“ Dies könne Deutschland im schlimmsten Fall teuer zu stehen kommen, „wenn nämlich Strafzahlungen von täglich zigtausend Euro fällig werden“.
Das nordrhein-westfälische Umweltministerium wollte sich auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ nicht zu den laufenden Verfahren äußern. Was die EU angeht, werde „der Bund in enger Abstimmung mit allen betroffenen Ländern eine Antwort auf die Vorwürfe der Kommission erarbeiten“, betonte Ministeriumssprecher Malte Wetzel. Für „die Betreuung beziehungsweise Entwicklung“ der hiesigen Vogelschutzgebiete seien in NRW zudem „die Kreise und kreisfreien Städten als Trägern der Landschaftsplanung“ zuständig. „Das Land stellt dann über verschiedene Programme Mittel zur Förderung zur Verfügung“, so Wetzel.
EU-Kommission schickt Mahnbrief
Ob es letztlich zu Strafzahlungen an die EU kommt, ist lange noch nicht geklärt. Denn dafür müsste erst ein mehrstufiges Verfahren durchlaufen werden. Die EU jedenfalls schickt jetzt erst einmal ein Schreiben mit den beklagten Missständen nach Berlin, das dann sicher auch an die Landesregierung in NRW weitergeleitet wird. Deutschland hat zwei Monate Zeit, auf die Vorwürfe zu reagieren. Andernfalls kann die Kommission eine sogenannte begründete Stellungnahme abgeben und damit den nächsten Verfahrensschritt einleiten. Am Ende des Vertragsverletzungsverfahrens können eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof und eine Geldbuße stehen.
Im Jahr 2006 hatte die EU schon einmal ein Verfahren wegen des Unteren Niederrheins eingereicht. Das damals ausgewiesene Schutzgebiet sei zu klein, hieß es. Im Frühjahr 2009 wurde das Verfahren eingestellt. Neben einer von NRW angebotenen Gebietserweiterung um etwa 5500 Hektar auf die heutige Größe forderte die EU „die Erarbeitung eines Maßnahmenkonzeptes zur Verbesserung beziehungsweise Sicherung des Erhaltungszustands der Wert gebenden Vogelarten als Bedingung zur Einstellung des Verfahrens“, heißt es beim zuständigen Landesamt für Natur und Umwelt (Lanuv). Die geplanten Maßnahmen jedoch sind nach Ansicht der Kommission nicht im erforderlichen Maß umgesetzt worden.