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Wenn Angehörige pflegen„Die schönste Zeit meines Lebens. Aber auch die anstrengendste“

Lesezeit 6 Minuten
Die Hände einer alten Frau umschließen eine grüne Plastiktasse, sie werden von der Hand einer jungen Frau gestützt.

Eine alte Frau bekommt Hilfe beim Trinken.

1,39 Millionen Menschen in NRW waren 2023 auf Pflege angewiesen, 16,4 Prozent mehr als 2021. Professionell betreut wird nur ein kleiner Teil.

Helena Stein hat in diesem Jahr ohne ihren Großvater Weihnachten gefeiert. Nur mit ihrem Mann und den beiden Kindern. Das ist traurig. „Der Opa war ein fester Bestandteil unserer Familie. Das waren immer wir vier – und der Opa“, sagt Stein. Gleichzeitig empfindet sie die neue Situation auch als schön, das kann sie nicht leugnen. „Wir waren noch nie so frei in unserem Familienleben“, erklärt die 29-Jährige.

Helena Stein heißt in Wirklichkeit anders, sie möchte ihren Namen aber nicht öffentlich nennen. Ihr Opa starb Anfang des Jahres mit 96 Jahren. Und in den letzten knapp sieben Jahren seines Lebens wurde er von Helena Stein gepflegt. „Es war die schönste Zeit meines Lebens“, sagt sie. „Aber auch die anstrengendste.“

Pflege in NRW: Zahl der Bedürftigen steigt deutlich

Etwas Gutes tun. Etwas Richtiges. Etwas, das sich nach dem natürlichen Lauf der Dinge anfühlt, aber kaum noch in unsere Zeit passt, in der nur Doppelverdiener-Familien noch einen Hauskauf oder regelmäßige Urlaube, manchmal überhaupt den Alltag stemmen können. Dieses Dilemma erleben immer mehr Familien, denn immer mehr Menschen werden pflegebedürftig.

Die Zahl der Pflegebedürftigen ist in NRW seit der letzten Auswertung vor zwei Jahren um 16,4 Prozent auf 1,39 Millionen angestiegen, das teilte das Statistische Landesamt jüngst mit. Durchschnittlich 7,6 Prozent der Menschen in NRW waren 2023 auf Pflege im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes angewiesen. Der Anteil Pflegebedürftiger an der Gesamtbevölkerung weicht in den verschiedenen Kreisen deutlich voneinander ab.

In absoluten Zahlen lebten die meisten Pflegebedürftigen 2023 in Köln, gefolgt vom Rhein-Sieg-Kreis und vom Rhein-Erft-Kreis – den bevölkerungsreichsten Kreisen der Region. Die Dichte der Pflegebedürftigen, also die Anzahl pro Einwohner, ist aber im Kreis Euskirchen am höchsten. Hier kommen auf 100 Einwohnende etwa neun Menschen, die Pflegeleistungen beziehen. Fast genauso hoch ist die Quote in Leverkusen, der Stadt mit den absolut gemessen wenigsten Pflegebedürftigen in der Region. Tatsächlich ist die Kölner Quote von 6,8 Prozent im Verhältnis fast am niedrigsten – nur untertroffen von Bonn mit 5,9 Prozent Pflegebedürftigen.

Mehr Pflegebedürftige, aber nur wenig mehr Menschen in Heimen

Trotz des Gesamtanstiegs Pflegebedürftiger in NRW um 16,4 Prozent, haben die ambulanten Pflegedienste nach Angaben des Statistischen Landesamtes nur 2,1 Prozent mehr Menschen betreut, in den Heimen war der Anstieg mit 1,3 Prozent noch geringer. Die allermeisten Pflegebedürftigen, nämlich 88 Prozent, lebten wie der Großvater von Helena Stein zu Hause und bekamen lediglich Pflegegeld ausgezahlt. In NRW waren das demnach 818.000 Personen, 24,8 Prozent mehr als zwei Jahre zuvor.

Der Sozialverband VdK warnt in diesem Zusammenhang vor einer zunehmenden Überlastung der Angehörigen. Sie seien die tragende Säule unseres Pflegesystems, sagte VdK-Landespräsident Horst Vöge. „Diese Menschen leisten unverzichtbare Arbeit, die oft mit enormer körperlicher, emotionaler und finanzieller Belastung verbunden ist.“ Auch die Erhöhung der Pflegeleistungen um 4,5 Prozent zum 1. Januar 2025 reiche nicht aus, um die gestiegenen Lebenshaltungskosten der Pflegebedürftigen und der pflegenden Angehörigen auszugleichen. Schon jetzt gelte jeder vierte pflegende Angehörige als arm.

Auch die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) legte zuletzt in ihrem Pflege-Report aktuelle Zahlen vor: So habe sich in der Region Nordrhein die Pflegeprävalenz (Anteil Pflegebedürftiger an der Gesamtbevölkerung) von 4,0 Prozent der gesetzlich Versicherten im Jahr 2017 auf 8,3 Prozent im Jahr 2023 gesteigert. Deutschlandweit liegen nach den AOK-Auswertungen die sieben Städte und Kreise mit der höchsten Pflegeprävalenz allesamt in Brandenburg – mit einem Anteil von Pflegebedürftigen zwischen 14,3 und 17,1 Prozent.

Höchster Pflegeanteil in Viersen, Heinsberg, Düren und Euskirchen

NRW-weit wurde mit 11,3 Prozent in Viersen die höchste Pflegeprävalenz festgestellt, gefolgt von Heinsberg (10,5 Prozent), Düren (9,9 Prozent) und Euskirchen (9,8 Prozent). Köln und Leverkusen fallen mit einem extrem gestiegenen Anteil von Pflegebedürftigen um jeweils 144 Prozent auf, aber auch in Mönchengladbach (124 Prozent) und Krefeld (121 Prozent) nahmen die Anteile laut den AOK-Zahlen deutlich zu.

Helena Stein war 22 Jahre, frisch verheiratet und gerade zum ersten Mal schwanger, als sie in das Haus ihrer Großeltern in Bergisch Gladbach zog. Ihr Vater und seine drei Geschwister waren sich einig, dass die Eltern Hilfe brauchten. Sie alle waren aber beruflich derart eingespannt, dass sie sich nicht umfassend kümmern konnten. Stein dagegen konnte – und wollte. Sie studierte Agrarwissenschaften, plante aber ohnehin die Familiengründung. Also trat sie im Studium kürzer und akzeptierte einen späteren Berufseinstieg.

Angehörige berichtet: Pflege der Großeltern wird zum Vollzeit-Job

Sich um die Großeltern zu kümmern, wurde ihr Job. Es war zunächst kein schlechter für eine junge Mutter, denn er nahm ihr den Druck, die Kinder früh in die Betreuung geben zu müssen, um einer Lohnarbeit nachgehen zu können.

Was mit Hilfe im Haushalt, einkaufen gehen und zu Arztbesuchen begleiten begann, wurde jedoch schnell zu einem Rund-um-die-Uhr-Job. Der Zustand von Steins Großmutter verschlechterte sich rasant, anderthalb Jahre nach dem Einzug der Enkelin starb sie. „Als ich angefangen habe, ihr viel abzunehmen von der Haushalts- und Care-Arbeit, an die sie ihr ganzes Leben gewöhnt war, hat ihr Körper glaube ich entschieden, dass es an der Zeit ist, Pause zu machen“, sagt Stein.

Das alles neben einem Lohnerwerb zu leisten, ist unvorstellbar.
Helena Stein aus Bergisch Gladbach

Auch der Opa baute zunehmend ab. Er entwickelte eine Demenz und hatte aufgrund seines Diabetes immer weniger Gefühl in Händen und Füßen. Er stürzte oft. Stellte unsinnige Dinge in die Mikrowelle oder rührte sich Klebstoff in den Kaffee. „Wir konnten ihn nicht mehr allein lassen“, erzählt Stein. Das war eine enorme Einschränkung für die Familie.

Gemeinsame Ausflüge waren kaum möglich, nur in den mit dem Rest der Angehörigen ausgehandelten fünf Wochen Jahresurlaub konnte Stein mit Mann und Kindern wegfahren und etwas entspannen. Die Belastung war extrem. Stein geriet an den Rand eines Burnouts. Sie sagt: „Das alles neben einem Lohnerwerb zu leisten, ist unvorstellbar.“

Hilfe an sechs von acht Wochenendtagen und Tagespflege

Sie sprach mit der Familie, sagte, dass sie nicht mehr könne. Als Alternative für den Großvater blieb nur ein Pflegeheim. Doch das wollte Stein nicht. Sie ließ sich beraten, suchte nach Wegen, ihm weiter das Leben zu Hause zu ermöglichen. Viel Hilfe von offizieller Seite habe sie nicht bekommen. Am Ende organisierte Stein sich selbst ein System, das irgendwie bis zum Schluss funktionierte.

Ein Pflegedienst übernahm die körperliche Pflege. Ein Helfer unterstütze an sechs von acht Wochenendtagen tagsüber. Und wochentags ging der Opa zweimal in eine Tagespflege. Auch so blieb noch reichlich Arbeit für Helena Stein. Aber sie war bewältigbar. Und Stein kann heute, knapp ein Jahr nachdem der Großvater nicht mehr aus seinem Mittagsschlaf aufgewacht war, aus vollem Herzen sagen: „Es war genau die richtige Entscheidung für uns.“

Als sie selbst Kind war, habe sie den Vater ihres Vaters immer als cholerisch und unberechenbar erlebt. „Er war nicht der liebevolle Ich-lese-dir-was-vor-Opa.“ Für ihre eigenen Kinder sei er jedoch „ein großartiger Uropa“ gewesen. „Er hat mit ihnen gemalt, gebastelt, gelesen, war nie gestört von ihnen, egal wie sehr sie gequengelt haben.“ Deshalb blickt Stein heute trotz aller Anstrengung sehr dankbar auf die letzten Jahre mit diesem Mann zurück: „Es war so schön, die verschiedenen Generationen zusammen zu erleben.“