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Krankenstand in NRW extrem hoch„Überfordernde Arbeit auf Dauer so gefährlich wie Rauchen“

Lesezeit 6 Minuten
Eine depressive Frau an ihrem Arbeitsplatz (Symbolfoto).

Die psychische Belastung berufstätiger Menschen ist gestiegen.

Der Krankenstand in NRW steigt, vor allem in Berufen mit Personalmangel. Experten sind alarmiert – und fordern ein Umdenken.

So häufig krank wie in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres waren die Menschen in NRW lange nicht. Das geht aus einer aktuellen Analyse der Krankenkasse DAK hervor. Der Krankenstand der Beschäftigten in Nordrhein-Westfalen ist in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres demnach um 71 Prozent höher als im Vergleichszeitraum 2022. Mehr als die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben bis Ende Juni 2023 bereits mindestens eine Krankschreibung bei ihrem Arbeitgeber eingereicht.

So eine hohe Quote (51,6 Prozent) wird gewöhnlich erst am Ende eines Jahres erreicht. Nach Angaben der DAK-Gesundheit stieg der Krankenstand damit auf 5,7 Prozent. Das ist der höchste Stand in NRW seit dem Start der Halbjahresstatistik vor sieben Jahren, teilte die Kasse mit.

Die Zahlen alarmieren Mediziner wie Ökonomen gleichermaßen. Einen Verantwortlichen für den Anstieg haben Experten nämlich schon ausgemacht: Mitschuld trage der Arbeitskräftemangel und die damit einhergehende steigende Belastung für die übrigen Mitarbeitenden. „Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen dem Personalmangel in bestimmten Berufen und dem Krankenstand dort“, sagt Klaus Overdiek, Landeschef der DAK-Gesundheit in NRW.

„Personalmangel kann zu einer Überlastung führen, die die Gesundheit entscheidend beeinträchtigt. Das Ergebnis sind mehr Fehltage – was die Personalsituation weiter verschärft. Das ist ein Teufelskreis.“ Der hohe Krankenstand mache deutlich, dass sich beim Thema Arbeit die gesundheitliche Dimension nicht ausblenden lässt. „Die Unternehmen in NRW sollten auch im eigenen Interesse verstärkt auf den Gesundheitsschutz ihrer Mitarbeitenden achten und Ressourcen ins Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) investieren.“

Personalmangel macht Rest der Belegschaft krank

Die Analyse zeigt dann auch, dass krankheitsbedingter Arbeitsausfall in Berufen mit Personalmangel eine besonders große Rolle spielt. So summierten beispielsweise Beschäftigte in nichtmedizinischen Gesundheitsberufen wie der Altenpflege im ersten Halbjahr 2023 im Schnitt pro Kopf fast 14 Fehltage. Im Durchschnitt aller Berufe waren es nur rund 10 Tage. Auch bei den Mangelberufen der Fahrzeugführung ist der Krankenstand weit überdurchschnittlich hoch. Hier kam jede und jeder Beschäftigte im Schnitt ebenfalls auf fast 14 Fehltage.

Auch die Techniker-Krankenkasse vermeldete für das erste Halbjahr 2023 einen Höchststand bei Krankschreibungen. Im Schnitt fielen die Versicherten 9,5 Tage krankheitsbedingt bei der Arbeit aus. Damit steigen die Zahlen seit 2019 (7,8 Fehltage) kontinuierlich an. Als Grund gibt die Techniker Infektionskrankheiten, aber auch einen Anstieg psychischer Diagnosen, sowie bei Muskel-Skelett-Erkrankungen wie Rückenschmerzen an.

Arbeit beeinflusst die Gesundheit der Menschen erheblich
Andreas Tautz, Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin

Gerade die letzten beiden Diagnosen sehen Experten als Erkrankungen an, die im Zusammenhang mit schlechten Arbeitsbedingungen entstehen oder sich zumindest verschlimmern. „Während beispielsweise Muskel-Skelett-Erkrankungen in vielen Produktionsfirmen mittels technischem Fortschritt und ergonomischen Maßnahmen auf einem Niveau blieben oder sogar gesenkt werden konnten, sind es insbesondere die psychischen Erkrankungen, die einen enormen Anstieg verzeichnen. Ließen wir diese noch in den 90er Jahren mit anderen Diagnosen noch unter dem Label Sonstige Erkrankungen laufen, so stellen wir diese Diagnosegruppe mittlerweile extra in unseren Berichten dar“, sagt Franz-Josef Burgund vom Institut für Betriebliche Gesundheitsförderung. Mittlerweile leiden laut WHO 15 Prozent der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter unter einer psychischen Erkrankung. Fast jeder zweite junge Europäer berichtet laut einem Bericht der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2022 von einem ungedeckten Bedarf an psychischer Gesundheitsfürsorge, zudem habe sich der Anteil an jungen Menschen mit Depressionssymptomen in mehreren EU-Ländern während der Pandemie mehr als verdoppelt.

Die Gründe sieht der Sportwissenschaftler, der NRW-Firmen wie Thyssen-Krupp oder Haribo, aber auch kleine Tischlereien beim Gesundheitsmanagement berät, auch in der stetig wachsenden Aufgabenvielfalt sowie der Unsicherheit vor der Zukunft am Arbeitsplatz. Natürlich können auch private Gründe eine Rolle spielen. Wenn aber einige Diagnosegruppen über mehrere Jahre im Vergleich zur Branche auffällig sind, so kann dies mitunter auch an Bedingungen im Betrieb liegen, der bei guten Bedingungen, guter Führung und gutem Miteinander auch ein Gesundheitsfaktor darstellen kann.

„Arbeit beeinflusst die Gesundheit der Menschen erheblich“, sagt auch Andreas Tautz, Vorstandsmitglied bei der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. Neben körperlicher Belastung spiele vor allem der Stress bei andauernder Überforderung, geringen Handlungsspielräumen und/oder schlechter Stimmung im Team eine große Rolle. „Bei fortgesetztem Stress schüttet der Körper Cortisol aus und das erhöht auf Dauer das Risiko für Depressionen, Burnout, Erkrankungen des Immunsystems oder des Herzkreislaufsystems. Überfordernde Arbeit kann damit zu einer ebenso großen Gesundheitsbelastung wie das Rauchen werden.“ Nach einer Studie des McKinsey-Health-Instituts löst toxische Führung drei von vier Burnout-Fälle aus. Auch die WHO anerkennt seit 2022, dass gute Arbeit der Gesundheit zwar dienlich sei, schlechte sie aber schädige. Tautz ist sich sicher, dass die „gesamtgesellschaftliche Krankheitslast maßgeblich mit der Arbeit zusammenhängt.“

Mehr Impulse aus der Politik gefordert

Eine von Wertschätzung und Vertrauen geprägte Teamstruktur und das Vermeiden von Überforderung seien dabei Gesundheitsfaktoren, die im Unternehmen erfüllt werden müssten. Aber auch die Politik sieht Tautz in der Pflicht. Zwar sei 2015 das Präventionsgesetz auf den Weg gebracht worden. Hierin ist zum Beispiel geregelt, dass sich die Krankenkassen unter bestimmten Voraussetzungen an Präventionsangeboten der Firma finanziell beteiligen können. „Viel ist aber in der Umsetzung stecken geblieben“, moniert er. Das liege schon daran, dass mit Krankenversicherern, Unfallversicherern und der Rentenversicherung viele Mitspieler involviert seien, es bei der Verzahnung untereinander aber hake. „Insgesamt setzen wir uns mit dem Einfluss von Arbeit auf unser Wohlergehen viel zu wenig auseinander.“

Dabei belegen zahlreiche Studien, dass mehr Gesundheitsförderung für Arbeitnehmer nicht nur dem Wohl der Mitarbeitenden zugute käme, sondern sich auch betriebswirtschaftlich rechnen würde. Bedeutet ein hoher Krankenstand doch nicht nur individuelles Leiden, sondern auch hohe Kosten für die Unternehmen.

Milliarden Ausgaben durch Lohnfortzahlungen Jahr für Jahr

Eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) beziffert die Kosten für Lohnfortzahlungen schon für das vergangene Jahr auf 87 Milliarden Euro – zehn Milliarden Euro mehr als im Vorjahr, aber wahrscheinlich weniger als im laufenden Jahr. Europaweit beziffert die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz allein die Kosten einer reduzierten Produktivität wegen psychischer Erkrankungen auf 136 Milliarden Euro.

Die Initiative Gesundheit und Arbeit, mit der gesetzliche Kranken- und Unfallversicherungen u.a. kooperieren, um arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren vorzubeugen, rechnet vor, dass in Betrieben, in welchen sich um die Gesundheit der Belegschaft gekümmert wird, die Fehlzeiten um bis zu 25 Prozent reduziert werden können. „Jeder Euro, den eine Firma in eine umfassende Gesundheitsvorsorge seiner Mitarbeiter steckt, kommt laut Studien mit 2,7 bis 5,8 Euro wieder zum Unternehmen zurück“, sagt Franz-Josef Burgund.

Vier von fünf Betrieben stellen laut Initiative Gesundheit und Arbeit nach der Einführung von Betrieblichem Gesundheitsmanagement eine positive Wirkung im Betrieb fest. Auch die Mitarbeiterbindung werde gestärkt. Hierbei sieht Franz-Josef Burgund den Arbeitskräftemangel wiederum als Chance für mehr Anstrengungen in der Gesundheitsförderung. Je rarer die Arbeitskräfte, desto wichtiger werde schließlich die Außendarstellung eines potentiellen Arbeitgebers. „Gerade die jungen Leute legen vermehrt Wert auf eine gute Work-Life-Balance, die wollen sich nicht mehr nur in Nachtschichten und Überstunden aufreiben. Sie fragen: Was bietet ihr mir? Und da kann eine gute Gesundheitsfürsorge des Betriebes durchaus der Schlüssel dafür sein, sich die guten Mitarbeiter zu angeln. Genau aus diesem Grund liegt unsere Sichtweise der Analyse nicht nur in der Reduzierung eines überdurchschnittlich hohen Krankenstandes und den damit verbundenen Ausfallkosten, sondern vielmehr in der Sichtweise: Wie zufrieden und motiviert sind die Mitarbeiter unabhängig davon, ob sie gesund oder krank, anwesend oder abwesend sind.“