Nachdem er bei einem Anschlag Einsatzkräfte teils lebensgefährlich verletzt hatte, steht ein 57-Jähriger in Düsseldorf vor Gericht.
Prozessbeginn nach BrandanschlagPolizeichefin will nach Angriff von Ratingen endlich Antworten
Als Dominique Kaewert am 11. Mai den Anruf der Kollegen von der Wache auf ihrem Privathandy sah, wusste sie: Da muss etwas Schlimmes passiert sein. Die Chefin der Polizeiwache Mettmann hielt gerade mit dem Ratinger Wachbereichsleiter Frank Bauernfeind einen Vortrag, eine ganz normale Präsentation vor älteren Menschen. Thema: Betrugsdelikte bei Senioren. „Am Telefon hieß es dann: Kollegen wurden verletzt“, sagt Kaewert. „Wir haben uns schnell das Nötigste übergeschmissen und sind zum Einsatz gefahren.“
Emotional war es ein anderer Einsatz
Der Arbeitsablauf sei in solchen Einsätzen klar geregelt, sagt Kaewert. Die Einsatzmaßnahmen, die Taktik – sie sind dieselben wie bei anderen Fällen, bei denen keine Einsatzkräfte unter den Verletzten sind. Nur emotional sei da natürlich ein Unterschied.
Am Freitag beginnt in Düsseldorf der Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter von Ratingen. Der Vorwurf: neunfacher versuchter Mord, gefährliche Körperverletzung und besonders schwere Brandstiftung. Der Angeklagte lebte demnach zusammen mit seiner Mutter im zehnten Stock eines Mehrfamilienhauses in Ratingen. Als der Briefkasten überquoll, riefen die Nachbarn die Polizei, Einsatzstichwort „hilflose Person“. Weil niemand die Tür öffnete, versuchten Polizei und Feuerwehr zusammen, diese aufzubrechen, als der 57-jährige Angeklagte die Tür aufriss, eine brennbare Flüssigkeit auf die Einsatzkräfte warf und sie entzündete.
„War es die Polizei, die er schädigen wollte? Oder die Feuerwehr?“
Durch die Explosion wurden alle neun Einsatzkräfte verletzt. Sie flüchteten über das Treppenhaus, rannten, teils brennend, zehn Stockwerke hinunter ins Freie. Vier Feuerwehrleute erlitten schwere Verletzungen, drei weitere lebensgefährliche Verbrennungen. Die beiden Polizisten überlebten lebensgefährliche Verletzungen mit Verbrennungen auf bis zu 80 Prozent der Körperoberfläche.
Aus dem Prozess, sagt Kaewert, erhofft sie sich endlich Antworten von dem Angeklagten. Bisher schweigt er. „War es die Polizei, die er schädigen wollte? Oder die Feuerwehr? War es ihm eigentlich egal, wen er trifft?“ Die Motivlage, die Frage, ob er aus einem krankhaften Wahn oder aus Hass auf die Rettungskräfte handelte, sei „das große Fragezeichen, das über unser aller Köpfe schwebt.“
Die Tat scheint sinnlos: Nach der Explosion blieb der Angeklagte sogar in seiner brennenden und verqualmten Wohnung, wo ihn ein Spezialeinsatzkommando später festnahm. Dort fanden sie auch die teils skelettierte Leiche seiner Mutter. „Alles, was bisher bekannt wurde – beispielsweise, dass er Corona-Leugner gewesen sein soll – reicht für mich nicht als Motiv für eine solche Tat“, sagt Kaewert.
Welle der Solidarität
Als Kaewert mit ihren Kollegen vor dem Hochhaus in Ratingen eintraf, hatten Rettungshubschrauber und Krankenwagen schon einen Teil der verletzten Einsatzkräfte abtransportiert, auch die schwer verletzte 25-jährige Polizistin. Ihr ebenfalls lebensgefährlich verletzter Kollege und ein Rettungssanitäter lagen noch am Boden. Bei ihrer Flucht halfen die Einsatzkräfte trotz ihrer eigenen Verletzungen der am schwersten verwundeten Polizistin, löschten sie auf der Einfahrt mit Wasserflaschen, die Nachbarn vom Balkon warfen. Der damals 29-jährige Polizist hatte noch im Treppenhaus einen Notruf an die Leitstelle abgegeben. Damit, sagt Kaewert, habe er „in einer absoluten Ausnahmesituation Professionalität in einem ganz hohen Maße bewiesen“.
Der 11. Mai war auch der Prüfstein für das „Peer-Debriefing“-System in der Kreispolizeibehörde: Extra geschulte Polizeibeamte übernehmen hierbei die Erstversorgung von traumatisierten Kollegen. „Ich habe mich am 11. Mai mit den Peer-Debriefern um das Team gekümmert, unter Schock stehende Kollegen aus dem Einsatz genommen und durch andere ersetzt“, sagt Kaewert. Die Peer-Debriefer hätten Kollegen, die nicht mehr Auto fahren konnten, zurück zur Wache gebracht und standen auch in den nächsten Tagen rund um die Uhr als Ansprechpartner zur Verfügung.
Briefe und Wünsche aus der Bevölkerung
Nach dem 11. Mai wurde die Kreispolizeibehörde überrannt, sagt Kaewert, dieses Mal im positiven Sinne. Auf der Wache kamen Briefe und Genesungswünsche aus der Bevölkerung an, Selbstgebasteltes von Kindern, ein Mann stellte sich mit einem Solidaritätsplakat vor die Polizei- und Feuerwehrwache, auch die Stadt bot Unterstützung an. Bereits einen Tag nach der Tat hatten Beamte der Mettmanner Wache gemeinsam mit den Kollegen der verletzten Feuerwehrleute ein Spendenkonto eingerichtet. „Dort gingen 900 Einzelspenden ein, insgesamt waren es 700.000 Euro“, sagt Diane Dulischewski, Pressesprecherin der Polizei Mettmann.
Eine Ethik-Kommission teilte das Geld zwischen den verletzten Einsatzkräften je nach Schweregrad der Verletzung auf. „Ein Großteil des Geldes dient den Anschlussbehandlungen, die vielleicht nicht von der Versicherung übernommen werden“, sagt Dulischewski. „Von dem Geld konnten Angehörige aber auch beispielsweise Spritkosten und Hotelübernachtungen begleichen.“ Einige Einsatzkräfte lagen in den ersten Wochen noch im Koma, teilweise waren die Kliniken über 100 Kilometer von ihrem Zuhause entfernt.
Der verletzte Polizist wurde mittlerweile aus dem Krankenhaus entlassen, ist aber noch nicht dienstfähig. Die Polizistin befindet sich in einer stationären Anschlussmaßnahme.
Der 11. Mai begann für die Einsatzkräfte mit einem Routineeinsatz. „Hilflose Person“ – dieses Stichwort gibt die Leitstelle beinahe täglich an Polizisten und Feuerwehrleute weiter, sagt Kaewert. Mal geht es um eine Seniorin, die in ihrer Wohnung gestürzt ist, mal geht es um einen Nachbarn, der im Treppenhaus Verwesungsgeruch wahrnimmt, und manchmal geht es um einen überquellenden Briefkasten. „Die Kollegen sind jetzt natürlich noch vorsichtiger, wenn sie zu solchen Einsätzen fahren“, sagt Kaewert. Ein Restrisiko bleibe jedoch. „Situationen wie in Ratingen werden wir niemals ganz vermeiden können.“