Fünf Menschen starben bei dem Anschlag. Mevlüde Genç, die Mutter, Großmutter und Tante der Opfer, setzte sich Zeit ihres Lebens für Versöhnung ein.
30. Jahrestag des Brandanschlags in Solingen„Ich habe fünf Blumen verloren“, sagte Mevlüde Genç
Das Navi kennt die Adresse nicht, Untere Wernerstraße 81 in Solingen. Es kann sie nicht kennen, denn sie existiert seit dem 29. Mai 1993 nicht mehr. Seit jener Nacht zum Pfingstsamstag, als vier junge Männer aus der Skinhead-Szene das Haus der Ende der 70er Jahre aus der Türkei eingewanderten Großfamilie Genç anzündeten. Drei Mädchen und zwei junge Frauen kamen in den Flammen um. Sie mussten sterben, weil die vier jungen Männer und Jugendlichen, der jüngste gerade 16, einen Denkzettel verpassen wollten. Sie kannten keines ihrer Opfer persönlich. Ihr Motiv: Ausländerhass.
Der Routenplaner leitet zum nächsten möglichen Zielort, der Hausnummer 79. Da steht man dann vor einer Baulücke. Das freie Grundstück ist auch nach 30 Jahren ein beklemmendes Mahnmal, auch ohne den Gedenkstein mit der Bronzetafel, auf der auf Deutsch und Türkisch steht: „An dieser Stelle starben als Opfer eines rassistischen Brandanschlags“ – und es folgen die Namen der Getöteten. „Ich habe fünf Blumen verloren“, sagte die damals 50-jährige Mevlüde Genç in ihrer Trauer beinahe lyrisch. Sie verlor ihre Töchter Gürsun (26) und Hatice (18), ihre Enkelinnen Hülya (9) und Sayime (4), die vor dem Haus so gern Gummitwist tanzten, und ihre Nichte Gülüstan (12) im Feuer.
Rechtsextreme Jugendliche drohten: „Ihr werdet brennen wie die Juden“
Das Grundstück ist abschüssig, irgendwo beginnt ein Park, der einmal eine Mülldeponie gewesen ist und seit ewigen Zeiten nur „das Bärenloch“ genannt wird. In den 90er Jahren, erinnern sich Anwohner, war die Anlage mit dem wildromantisch klingenden Namen ein beliebter Treffpunkt rechter Jugendlicher. Sie hätten „Deutschland den Deutschen“ gegrölt und sich am Lagerfeuer Türken-Witze erzählt.
Auch Mevlüde Genç‘ Ehemann Durmuş Genç, gab, als es schon zu spät war, zu Protokoll, dass er das Treiben von seinem Haus aus angstvoll beobachtet habe. Manchmal hätten die jungen Leute in alkoholisiertem Zustand deutlich hörbar Drohungen ausgestoßen: „Ihr werdet brennen wie die Juden.“ Genc hielt das für Wichtigtuerei irgendwelcher dummen Jungs. Bis es tödliche Wirklichkeit wurde.
Einige Zeit nach dem Abriss des abgebrannten Hauses hatte die Stadt Solingen im Gedenken an die fünf Opfer auf Wunsch der Familie fünf Kastanien pflanzen lassen. Schon kurz darauf hatten Unbekannte eine Kastanie nachts abgeholzt.
Verurteilten meldeten sich kurz vor Jahrestag zu Wort
Mevlüde Genç erlebt den 30. Jahrestag des Anschlags nicht mehr: Sie ist im vergangenen Oktober mit 79 gestorben. Vermutlich hätte sie, wenn sie sich zum schwärzesten Moment in ihrem Leben geäußert hätte, trotz allem, was sie und ihre Familie durchlitten hat, wiederum ihren Versöhnungswillen und die Notwendigkeit, nach vorn zu schauen, bekundet. Ihr damaliger Schmerz wurde verschlimmert durch abstruse Gerüchte, dass ihr aus Versicherungsleistungen und Spendengeldern finanziertes neues Haus eine Luxusvilla mit beheizbarem Pool und Hubschrauber-Landeplatz sei. Für ihre Versöhnungsbereitschaft war sie 1996 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Schon im Jahr zuvor hatte sie die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Begraben ist sie wie ihre ermordeten Verwandten in ihrem türkischen Heimatort Mercimek.
Es hätte sie sicher geschmerzt, dass drei der vier 1994 vom Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf als Verantwortliche für den Brandanschlag Verurteilten sich ausgerechnet jetzt erstmals öffentlich zu Wort melden. In persönlich gehaltenen Erklärungen beteuern die zum Zeitpunkt der Tat zwischen 16 und 23 Jahre alten Männer ihre Unschuld und verweisen auf vermeintliche Ermittlungsfehler vor dem Prozess.
Pannen gab es tatsächlich. Die Spurensicherung hatte die Brandstätte zu früh reinigen lassen. Dadurch waren Gewebeproben und Fingerabdrücke unwiderruflich verloren gegangen. Der Verlauf des Brandes war unter technisch falschen Voraussetzungen simuliert worden. Am Ende kann das Gericht jedoch keine Zweifel an der Schuld der Vier erkennen und verurteilt sie wegen mehrfachen Mordes. Drei der Angeklagten erhalten nach Jugendstrafrecht die höchstmögliche Strafe von zehn Jahren, gegen Markus G., den Ältesten, werden 15 Jahre verhängt.
Genç beim Prozess: „Ich bin 51, aber mein Herz ist 90“
Es war mit anderthalb Jahren Dauer, 127 Verhandlungstagen und 267 Zeugen eines der größten Strafverfahren in der Bundesrepublik. Schon während des Prozess war Kritik laut geworden, dass sich die Richter auf eine Einzeltäter-Theorie versteift und versäumt hätten, mögliche Hintermänner oder gar ein rechtsextremes Netzwerk auszuleuchten. Ähnliche Vorwürfe hat es im Zusammenhang mit dem Münchner NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und ihre Komplizen gegeben.
Der Solinger Rechtsanwalt Jochen Ohliger, der die Stellungnahmen im Auftrag von drei der damals Verurteilten nun veröffentlicht hat, hatte schon 1994 als Verteidiger vor Gericht scharfe Kritik an den Ermittlungsbehörden geübt und sie als „Hobbykriminalisten“ bezeichnet.
In ihren Erklärungen verurteilen die seit ihrer Entlassung anonym in NRW lebenden Männer den Anschlag und drücken ihr Mitgefühl mit der Familie Genc aus. Felix K, der damals schräg gegenüber des „Türkenhauses“ gewohnt hat, schreibt, schlimmer als die lange Haft sei mitzuerleben, „wie wir zu Unrecht Verurteilten lebenslang als Mordbrenner und Neonazis stigmatisiert werden“.
Gut, dass Mevlüde Genç diese Äußerungen erspart geblieben sind, kann man auch von Kritikern des damaligen Mammutprozesses hören. Sie erinnern daran, dass sie an beinahe an jedem Verhandlungstag im Gerichtssaal saß. Die Anerkennung des Leids ihrer Familie war der erste Schritt auf dem Weg zu einer gesellschaftlichen Heilung. Die Journalisten Metin Gür und Alaverdi Turhan haben für ihr Buch „Die Solingen-Akte“ bewegende Augenblicke aus dem Prozess dokumentiert.
Etwa, als die Mutter, Oma und Tante vom Vorsitzenden Richter nach ihrem Alter gefragt wurde. „Ich bin 51, aber mein Herz ist 90. Ich bin eine lebende Leiche.“ Auf die Frage nach ihrem Beruf sagte sie: „Ich bin die Pflegerin meines verbrannten Sohnes Bekir.“ Der 15-Jährige hatte sich in Panik aus einem Fenster gestürzt. Er überlebte schwer verletzt, 36 Prozent seiner Haut waren verbrannt, mehrere Knochen gebrochen. An den Folgen leidet er bis heute.
Sollen nun auf einmal die damaligen Feststellungen nicht mehr zutreffen, dass die vier bald nach dem Anschlag ermittelten Verdächtigen, alle mit Verbindungen ins rechtsextreme Milieu, ihren verheerenden Entschluss als Reaktion auf eine Demütigung gefasst haben? Ein Albaner, ein verhasster Ausländer also, hatte die angetrunkenen Besucher einer Polterabend-Party des Lokals verwiesen. Nach ihren aktuellen Bekundungen sei alles ganz anders gewesen und sie hätten zu Unrecht jahrelang im Gefängnis gesessen.