Spitzensport und Schule - wie lässt sich so viel Stress verarbeiten? Eine Fußballerin aus Köln und ein Schwimmer aus Dortmund erzählen.
Vor der Klassenarbeit zum TrainingSo verbindet eine Kölner Nachwuchs-Fußballerin Leistungssport und Schule – Leidet die Psyche?
Vor Klassenarbeiten ist Norik Schulz auch schon mal freiwillig zum Frühtraining gegangen. Aufstehen um 6.30 Uhr, schnell ein Müsli essen und ab in die Schwimmhalle. Dort Bahnen ziehen von 7.15 bis 9 Uhr, dann weiter in die Schule. Was für andere einer Horror-Vorstellung gleichkommt, bedeutet für den 17 Jahre alten Bochumer Entspannung.
„Wenn ich so früh aufstehe und schon Sport getrieben habe, bin ich auch in der Schule deutlich leistungsfähiger“, sagt Schulz: „Ich bin dann freier im Kopf.“ Ähnlich im Sinne des Leistungssports argumentiert die 16 Jahre alte Fußball-Nationalspielerin Lilith Schmidt: „Wenn ich zum Training gehe und irgendwelche Probleme habe, gerade eine doofe Klassenarbeit schreiben musste oder so, dann kann ich das auf dem Platz gut vergessen.“
Spitzensport in jungen Jahren kann stark machen. Eine aktuelle Studie des Psychologischen Instituts der Deutschen Sporthochschule in Köln zeigt jedoch, dass junge Kaderathletinnen und -athleten in NRW keine deutlichen Vorteile gegenüber ihren Altersgenossen haben.
Projekt untersucht Daten von mehr als 480 Leistungssportlern
Jeder siebte junge Leistungssportler hat demnach ein auffällig niedriges Wohlbefinden oder trägt ein Depressionsrisiko. Besonders betroffen sind Jugendliche beider Geschlechter zwischen 16 und 17 Jahren, zudem sind insgesamt Mädchen und junge Frauen deutlich stärker betroffen als Jungen und junge Männer.
„Hochleistungssport macht psychisch nicht kränker, aber auch nicht gesünder“, resümiert Jens Kleinert, Leiter der Abteilung Gesundheit und Sozialpsychologie des Psychologischen Instituts an der Sporthochschule Köln. „Wir wollen herausfinden, wie sich Belastungen gerade in der aktuell schwierigen Zeit auf das Leben und die psychische Gesundheit von Athletinnen und Athleten auswirken“, erklärt Kleinert das Forschungsprojekt „NRW-Athlet:innen for future“.
Der Sportpsychologie-Professor und drei Kolleginnen haben Daten von mehr als 480 Leistungssportlerinnen und Leistungssportlern aus olympischen und paralympischen Sportarten, Disziplinen des Gehörlosensports und World-Games-Sportarten ausgewertet und die Ergebnisse zuletzt beim Kongress Nachwuchsförderung NRW an der Sporthochschule vorgestellt.
Norik Schulz: Leistungssport als Halbtagjob neben dem Medizinstudium
Norik Schulz macht seit zehn Jahren Wettkampfsport. Ab 2018 war er tagsüber im Sportinternat in Dortmund untergebracht, am Abend fuhr er nach Hause nach Bochum. Seit 2021 lebt er ganz im Internat, gerade hat er am Goethe-Gymnasium seine Abiturprüfungen abgelegt.
Seine Ziele formuliert Schulz sehr deutlich: Zahnmedizin studieren und weiter Leistungsschwimmer sein. Vielleicht mal bei Deutschen Meisterschaften eine Medaille gewinnen in seiner Paradedisziplin 200 Meter Kraul – oder sogar den Sprung ins Nationalteam schaffen. 20 Stunden trainiert er pro Woche. Das ist ein Halbtagsjob obendrauf auf das normale Programm eines Schülers oder Studenten.
Zu viel Druck? Zu viel Stress? „Nein“, sagt Schulz: „Ich bin glücklich, sonst würde ich das nicht machen. Der Sport bringt Struktur in meinen Alltag, dadurch bin ich organisierter als andere.“ Aber der 17-Jährige sieht sehr wohl, dass sein Pensum die psychische Gesundheit gefährden kann.
Es gebe Zeiten, in denen er häufig krank sei, erzählt Schulz. Dann mache auch er sich schon mal Sorgen, ob er noch alles schafft. „Ansonsten bin ich aber relativ stressfrei und habe auch keine Angst, bei Wettkämpfen oder Klausuren zu versagen.“ Bei anderen erlebe er aber auch, dass sie „so viel Druck aufbauen, dass sie ihre Leistungen nicht mehr gut abrufen können“. Dass ist dann nicht nur schlecht fürs psychische Wohlbefinden, sondern auch fürs sportliche Vorankommen.
Lilith Schmidt: Die quirlige Pass-Spezialistin beim 1. FC Köln
Lilith Schmidt lässt sich bislang von nichts und niemandem aufhalten. Mit vier Jahren ging sie im Westerwald in den örtlichen Fußballklub, sie eiferte ihrem drei Jahre älteren Bruder nach. Sie spielte bis zum vergangenen Sommer beim JFV Wolfstein mit und gegen Jungs, nur hin und wieder waren auch mal ein oder zwei andere Mädchen dabei.
Schmidt schaffte den Sprung in die U-16-Nationalmannschaft, erhielt in Bad Neuenahr ein Zweitspielrecht in einer Frauenmannschaft – und wurde vom 1. FC Köln gecastet. Dort spielt sie nun in der U 20, darf aber mit den Bundesliga-Frauen trainieren. Gerade war sie bei der U-17-EM in Estland und hat dort mit dem deutschen Team knapp den Halbfinal-Einzug verpasst.
In Köln gehört Schmidt zusammen mit zwei Kolleginnen zu den ersten drei Mädchen, für die der FC Plätze im Sportinternat finanziert. Der Frauenfußball boomt und die quirlige Pass-Spezialistin freut das: „Ich bin in einer sehr, sehr guten Zeit auf dem Sprung.“ Sie geht in die zehnte Klasse auf dem Apostelgymnasium und vier bis sechs Mal pro Woche zum Training, dazu kommen an den Wochenenden die Spiele. Von ihrem Zuhause trennen Schmidt anderthalb Stunden Autofahrt.
Zu viel Druck? Zu viel Stress? „Nein“, sagt die junge Athletin: „Ich fühle mich angestrengt, aber nicht angestrengter als vor dem Wechsel ins Internat. Und ich kenne diese Anstrengung ja schon mein Leben lang.“ Die 16-Jährige sieht das als angemessenen Preis für ihr Spiel im defensiven Mittelfeld, für ihren Traum vom Einstieg in die Bundesliga und irgendwann in die A-Nationalmannschaft.
Schmidt konzentriert sich auf das Positive: „Die Schule finde ich in NRW einfacher als in Rheinland-Pfalz. Und die Belastung im Fußball ist zwar größer geworden, dafür sind die Wege deutlich kürzer.“ 15 Minuten vom Internat zum Trainingsplatz anstatt 70 Minuten von ihrem Heimatdorf im Westerwald nach Bad Neuenahr. Und im Internat gibt es Nachhilfelehrer, die ihr vor Klassenarbeiten zur Seite stehen.
Sportwissenschaftler Kleinert: „Viele gute Angebote zur Unterstützung“
Lilith Schmidt und Norik Schulz gehören nach eigenen Aussagen also nicht zu den siebten Nachwuchsathletinnen und -athleten, deren Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit Psychologie-Professor Jens Kleinert und seinem Forschungsteam Sorge bereiten. Aber ihr Alltagspensum mit Training und Schule, die Trennung von den Familien zeigen, wie hoch die Belastung für junge Spitzensportler ist. Wenn sie psychisch gesund bleiben und international erfolgreich werden sollen, was gesellschaftlich ja durchaus erwünscht ist, brauchen sie Unterstützung.
Die Kölner Sportwissenschaftler fordern daher vor allem zwei Dinge: Ein psychologisches Screening als Standard bei jeder sportmedizinischen Untersuchung. Verrückt, aber wahr: Das ist bislang nicht üblich. „Für viele ist es einfacher, den Blutdruck zu messen, als nach dem Wohlbefinden zu fragen“, sagt Kleinert. Dabei gebe es standardisierte Fragebögen, die in fünf Minuten ausgefüllt werden können und Verdachtsfälle aufdecken. Damit jenen, die Hilfe brauchen, Hilfe angeboten werden kann.
Zum anderen wäre eine Bündelung der Informationen zu psychosozialen Hilfsangeboten für junge Athletinnen und Athleten wünschenswert. Kleinert stellt sich da eine App vor, in der die Informationsflut für NRW-Sportler gesammelt und sortiert angeboten wird. Denn, so der Sportpsychologe: „Es gibt sehr viele gute Angebote, von den Vereinen, dem Landessportbund, den Stützpunkten, der Sporthochschule, der Sportstiftung NRW – aber die Infos dazu müssen auch bei den Athleten ankommen.“ Damit jene, die Hilfe suchen, auch Hilfe finden können.