Seit der Pandemie ist die Zahl der alkoholbedingten Arbeitsausfälle deutlich gestiegen. Eine Altersgruppe ist stärker gefährdet als andere.
Sucht am ArbeitsplatzMehr Rheinländer wegen Alkohol krank – Diese Branchen sind stark betroffen
Die Nachricht platzt in den Dry January wie ein Fass voll Kölsch: Wegen Alkohols fehlen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besonders häufig im Job. Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage, die auf Alkoholprobleme zurückzuführen sind, stieg in Nordrhein-Westfalen 2022 auf 15,31 Fehltage pro 100 berufstätigen Versicherten. Vor der Pandemie lag der Wert noch bei 13,17. Die Zahlen veröffentlichte die AOK Rheinland/Hamburg. Männer treiben dabei die Zahlen in die Höhe. Auf 100 versicherte Männer entfallen 19,6 alkoholbedingte Fehltage, auf 100 Frauen 9,5.
Die Dunkelziffer ist hoch
Betrachtet man die einzelnen Altersgruppen, sind vor allem ältere Arbeitnehmer zwischen 50 und 59 Jahren betroffen. Je 100 Menschen, die diesen Durchschnittswerten als Datengrundlage dienen, sammeln sich in diesem Lebensabschnitt pro Jahr 27 alkoholbedingte Ausfalltage an. Für diesen Vergleich hat das BGF-Institut (Institut für Betriebliche Gesundheitsförderung) der AOK Rheinland/Hamburg die Zahlen von Hunderttausenden berufstätigen Versicherten ausgewertet.
Die Dunkelziffer, sagt eine Sprecherin der AOK gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, sei zudem hoch. In die Auswertungen eingeflossen sind demnach nur solche Ausfalltage, für die eine AU-Bescheinigung eingereicht worden ist. Für Arbeitsunfähigkeiten von einem Tag bis zu drei Tagen sind in der Regel keine Krankenscheine nötig. Zudem obliege es dem Arzt, auf dem Krankenschein den Code für eine Alkoholerkrankung zusätzlich zu einem möglicherweise diagnostizierten Leberleiden anzugeben.
Etwa ein Sechstel trinkt problematisch viel und immer mehr
Ulrich Frischknecht, Professor für Sucht und Persönlichkeitspsychologie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, bestätigt gegenüber dieser Zeitung die Zunahme des problematischen Alkoholkonsums über die Corona-Jahre hinweg. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums nehmen in Deutschland 7,9 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren Alkohol in gesundheitlich bedenklicher Menge zu sich. Durchschnittlich werden pro Kopf jährlich rund zehn Liter reinen Alkohols konsumiert, so das Ministerium.
Im internationalen Vergleich liegt Deutschland hier im oberen Drittel. Zwar sei der Pro-Kopf-Verbrauch von Alkohol in den vergangenen Jahren in Deutschland sogar leicht gesunken, etwa ein Sechstel der Menschen aber, die vorher schon einen problematischen Umgang mit Alkohol aufgewiesen hätten, „tranken in der Pandemie deutlich mehr“, sagt Frischknecht.
Ältere Arbeitnehmer durch Pandemie stärker belastet als junge
Die Tatsache, dass ältere Arbeitnehmer überproportional betroffen sind, erklärt sich Frischknecht damit, dass diese gerade in der Pandemie durch die Digitalisierung stärker belastet gewesen seien als die Jungen. Zudem klaffe bei Alkoholkrankheiten eine Latenzlücke von etwa zehn Jahren zwischen dem Auftreten des Problems und der Suche nach einer ärztlichen Behandlung. Das bedeutet: Wer mit 40 an einer Alkoholabhängigkeit erkrankt, holt sich demnach erst mit 50 Hilfe.
Sieht man sich die Auswertung der Krankenkasse nach Branchen an, fällt auf, dass körperlich anstrengende Berufe wie im Metallbau, der Ver- und Entsorgung sowie in der Pflegebranche die Liste anführen. Aber auch in der öffentlichen Verwaltung, der Chemischen Industrie und dem Baugewerbe bleiben Mitarbeitende überdurchschnittlich häufig wegen alkoholbedingter Krankheiten ihrem Arbeitsplatz fern.
Ein Vergleich mit Zahlen von 2020 zeigt, dass sich die Fehltage in der Branche Information und Kommunikation in dieser Zeit von 6,08 auf 12,2 verdoppelt hat. Auch in der Herstellung von Metallwaren ging es nochmal um vier Tage nach oben. Beschäftigte im Gesundheitswesen, dem Einzelhandel, dem Gastgewerbe sowie dem Finanz- und Versicherungswesen scheinen dagegen weniger anfällig für alkoholbedingte Ausfälle zu sein.
Für Frischknecht zeigt die Auswertung zum Teil, dass gerade in stressbehafteten Berufen häufiger zur Bier- oder Weinflasche gegriffen werde. „Sucht ist hier häufig eine Folge von Selbstmedikation gegen den Stress“, sagt Frischknecht gegenüber unserer Zeitung. Dazu komme eine Verschlechterung der Lage in prekären Jobs. Von Alkoholismus betroffen sind laut Frischknecht zwar alle Schichten, bei sozioökonomisch niedrigerem Status wirke sich der Missbrauch auf Körper, Sozialleben sowie Psyche aber schädlicher aus. „Wir sprechen vom Alkohol-Schadens-Paradox. Das besagt, dass der Abteilungsleiter im Schnitt mehr trinken kann ohne sich selbst zu schaden als der Arbeiter am Fließband“, so Frischknecht.
Über die Gründe dafür ließen sich nur Vermutungen anstellen. „Möglicherweise leben reichere Menschen abgesehen vom Alkoholkonsum in gesünderen Verhältnissen. Dazu kommt, dass in höheren Einkommensschichten das Trinken eher als soziales Mittel zum Netzwerken und zur Erheiterung dient, während in niedrigeren Frust und Stress weggetrunken wird.“
Experte kritisiert Verharmlosung und Verherrlichung von Alkohol
Die fortdauernde Verharmlosung und Verherrlichung des Alkohols quer durch die ganze Gesellschaft haben Suchtexperten besonders im Blick. „Gerade im bald beginnenden Karneval erzählen wir uns gegenseitig heroische Geschichten von unserer Berauschtheit. Wir prahlen damit, wie viel wir getrunken haben und vielleicht auch, welchen Blödsinn wir in diesem Zustand gemacht haben“, sagt Frischknecht.
Alkohol sei in Werbung und auf der Straße zudem ständig präsent und jederzeit verfügbar. Auch die Politik trage ihren Teil zur Verharmlosung bei. „Wein beispielsweise unterliegt in Deutschland keiner Alkoholsteuer“, sagt Frischknecht. Während hierzulande eine Flasche Wein von 15 Euro lediglich mit 19 Prozent Mehrwertsteuer belegt ist und den Verbraucher dadurch 17,85 Euro kostet, zahlen beispielsweise Norweger durch die zusätzliche Weinsteuer für dieselbe Flasche 30,40 Euro.
„Im Grunde werden Winzer in Deutschland durch diese Regelung von der Politik subventioniert“, sagt Frischknecht. Zwar sieht eine EU-Reglung eine zwingende Alkoholsteuer auch auf weinhaltige Produkte vor, diese kann aber auf 0 gesetzt werden. Neben Deutschland machen auch Luxemburg, Österreich, Spanien, Italien sowie Portugal von dieser Möglichkeit Gebrauch. Durch die höhere Mehrwertsteuer in den anderen Ländern wird Wein in Deutschland sowie Luxemburg aber tatsächlich am niedrigsten besteuert.
„Rausch ist hui, Sucht ist pfui. Dass das eine zum anderen führt, ignorieren wir aber beständig.“ Auch in der Prävention ist man laut Frischknecht in der Politik darauf bedacht, der Industrie nicht auf die Füße zu treten. Man setze hauptsächlich auf verhaltensändernde Maßnahmen, aber wenig auf die Veränderung der Verhältnisse. „Wir bringen den Menschen bei, Stress besser zu ertragen, fragen uns aber nicht, wie wir den Stress reduzieren können.“
Bezogen auf den Umgang mit der Alkoholwirtschaft würde eine Veränderung der Verhältnisse auch einer höheren Besteuerung, Werbeverboten sowie Ausschankbeschränkungen bedürfen. Auch bei der AOK hat man derlei Gedanken. Vorstandsmitglied Sabine Deutscher hält eine „Einschränkung von Werbung für alkoholische Produkte vor allem dort, wo sich Kinder und Jugendliche aufhalten“, für denkbar.
Gesundheitsministerium sieht Arbeitgeber in der Pflicht
Das Gesundheitsministerium in NRW sieht die von der AOK Rheinland/Hamburg veröffentlichten Zahlen zu den Arbeitsunfähigkeitstagen wegen Alkoholerkrankungen „mit Sorge“. Politisch hält man sich in der Prävention mit der 1992 gestarteten Landeskampagne „Sucht hat immer eine Geschichte“ für gut aufgestellt. Der Leitsatz stehe „für die ursachenorientierte Sucht- und Drogenpolitik des Landes“, schreibt das Ministerium auf Anfrage. Das Ziel: Suchtmittelmissbrauch zu verhindern und die Suchtentstehung zu vermeiden. Insgesamt fördere das Land die Landesfachstelle Prävention mit rund 740.000 Euro jährlich, davon entfielen rund 140.000 Euro auf die Landeskampagne.
Nachholbedarf sieht man im Ministerium allerdings in der Wirtschaft: Arbeitgeber seien gefordert, „ihren Mitarbeitenden gute Arbeitsbedingungen zu bieten und eine betriebliche Suchtprävention vorzuhalten bzw. zu intensivieren“.