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Kölner Schule will UNICEF-Kinderrechteschule werden„Wenn Kinder das Gefühl haben, gehört zu werden, schützt es sie vor einer Radikalisierung“

Lesezeit 6 Minuten
Die Schülersprecher Felix und Leonie (Namen geändert) mit Schulleiterin Michaela Weißkamp

Die Schülersprecher Felix und Leonie (Namen geändert) mit ihren Klassemaskottchen. Hinter den beiden steht Konrektorin Michaela Weißkamp.

Zwei Kölner Schulen befinden sich auf dem Weg zu einer von UNICEF zertifizierten Kinderrechteschule. Was bedeutet das eigentlich? Ein Besuch.

In manchen Klassen könnten die Lehrkräfte während dem Klassenrat theoretisch Kaffee trinken gehen, sagt Lehrerin Sonja Klinke in der großen Pause. Die 4b ihrer Kollegin Inga Ehlert ist offenbar so eine Klasse. Wenige Minuten später strömen die Schüler zurück in die Klassenräume der Marienschule Longerich, es ist 10.10 Uhr, die nächste Stunde beginnt. Auf dem Lehrplan der 4b steht für die nächsten 45 Minuten nicht Englisch oder Sachkunde. Stattdessen tagt der Klassenrat.

Die Kinder setzen sich auf die kreisförmig angeordneten Bänke neben dem Lehrerpult, erste Schüler heben den Zeigefinger, die Klassensprecherin erteilt ihnen das Wort. Klassenlehrerin Inga Ehlert verfolgt den Stuhlkreis aufmerksam, greift jedoch nur vereinzelt in Diskussionen ein. Und auch sie meldet sich, wenn sie etwas sagen möchte. Einen Klassenrat moderieren – das schafft die 4b fast allein.

Worüber debattiert wird – das sammelt sich im Laufe der Woche. Die Kinder werfen Zettel in eine Kiste, darauf notieren sie die Themen, die sie gerne besprechen möchten. „Viele Kinder laufen in der Frühstückspause herum und das stört mich“, steht auf einem Blatt, eine andere Notiz: „Wenn keine Lehrer im Klassenraum sind, wird es total laut.“ Eine Anregung legte Ehlert selbst in die Kiste: „Was möchten wir am Nachmittag der Abschlussfeier machen?“

Demokratie heißt: Ich stehe auch mal auf der Verliererseite. Es ist uns wichtig, dass die Kinder das lernen
Konrektorin Michaela Weißkamp

Die Kinder müssen gemeinsam nach Lösungen suchen, sie machen Vorschläge, diskutieren, stimmen ab, widersprechen ihren Mitschülern. Grund für Streit scheint das für sie nicht. „Demokratie heißt: Ich stehe auch mal auf der Verliererseite. Das muss ich aushalten, auch wenn es in dem Moment frustrierend ist“, sagt Konrektorin Michaela Weißkamp. „Es ist uns wichtig, dass die Kinder das lernen.“

Zehn Schulen in NRW wollen Kinderrechteschule werden

Die Marienschule befindet sich derzeit auf dem Weg zur Zertifizierung als UNICEF-Kinderrechteschule, als eine von zwei Kölner Schulen. NRW-weit nehmen insgesamt zehn Schulen an dem Programm teil, alle befinden sich noch in der siebenstufigen Zertifizierungsphase. Bundesweit wollen 46 Schulen Kinderrechteschulen werden, weitere 13 Schulen haben es schon geschafft. Ziel ist es, den Kindern ihre Rechte nicht nur beizubringen, sondern sie auch zu leben. Das Recht auf Partizipation zum Beispiel, dass die eigene Meinung gehört und berücksichtigt wird. Wie im Klassenrat der 4b.

Seit die Vereinten Nationen im Jahr 1989 die Kinderrechtskonvention verabschiedeten, habe UNICEF seine Schulprogramme viel stärker auf Kinderrechte ausgerichtet, erklärt Sebastian Sedlmayer, Leiter der Stabsstelle Politik bei UNICEF Deutschland. Daraufhin entstanden in ersten Ländern Konzepte für kinderfreundliche Schulen. „Den deutschen Ableger haben wir Ende der Nullerjahre ins Leben gerufen.“

Besseres Schulklima, weniger Mobbing

2010 lief ein Pilotprojekt mit zehn Schulen in Hessen an. Eine wissenschaftliche Auswertung habe gezeigt: „Das Schulklima hat sich verbessert, die Kinder und Jugendlichen berichten, Gewalt und Mobbing hätten nachgelassen“, sagt Sedlmayr. In Hessen übernahm die Landesregierung das Projekt, aktuell setzt UNICEF das Kinderrechteschulen-Programm in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein um. In allen drei Bundesländern befindet sich das Programm in einer Pilotphase.

Sebastian Sedlmayr ist Leiter der Stabstelle Advocacy und Politik von Unicef Deutschland.

Sebastian Sedlmayr ist Leiter der Stabstelle Advocacy und Politik von Unicef Deutschland.

Schulen, die sich für eine Zertifizierung als Kinderrechteschule entscheiden, bilden eine Steuergruppe. Alle Schulmitarbeitenden nehmen an einem pädagogischen Tag in der Schule teil, die Hälfte von ihnen muss Lerneinheiten auf einer Online-Plattform absolvieren, dazu müssen sie sicherstellen, dass die Kinder ihre Rechte kennenlernen. Auch wenn dieser Ablauf bei allen Schulen gleich bleibt, können sich die einzelnen Schwerpunkte stark unterscheiden – abhängig davon, welche Themengebiete Lehrkräfte und Schüler am meisten beschäftigt. Das kann Gewaltprävention, Kampf gegen Diskriminierung oder beispielsweise der Aufbau von einem Schülerparlament und Klassenräten sein wie in der Marienschule.

„Allein das Verständnis, wie ein Parlament funktioniert, reicht nicht, um eine demokratische Grundhaltung auszubilden“, sagt Sedlmayr. „Wenn Kinder das Gefühl haben, gesehen und gehört zu werden und dass ihre Stimme zählt, schützt es sie auch vor einer möglichen Radikalisierung.

Kinder stimmten über Spende aus Sponsorlauf ab

Die Marienschule in Köln-Longerich begann zum Schuljahr 2022/2023 mit ihrer Zertifizierung zur Kinderrechteschule. Auch die Marienschule gründete ein Schülerparlament: Alle Klassensprecherinnen und Klassensprecher treffen sich nun dreimal pro Halbjahr im Lehrerzimmer, unter der Aufsicht der Lehrerinnen Sonja Klinker und Miriam Schmitz.

Die Kinder sind Abgeordnete ihrer Mitschüler, stellen Anträge vor, die im Klassenrat erarbeitet wurden und stimmen ab. Dabei diskutieren sie über Themen, die Kinder im Grundschulalter eben interessieren: Über ein Tischtennisturnier mit der gesamten Schule, darüber, ob die Schule eine Talentshow abhalten sollte, oder über das Motto des Laternenfestes im November. Zu Beginn des Schuljahres wählen sie zwei Schulsprecher.

Die Schülersprecher Felix und Leonie (Name geändert) stehen vor einem Plakat über Kinderrechte in der Eingangshalle der Marienschule in Köln-Longerich.

Die Schülersprecher Felix und Leonie (Namen geändert) stehen vor einem Plakat über Kinderrechte in der Eingangshalle der Marienschule in Köln-Longerich.

Ein Januarmorgen im Büro der Konkretorin. Die Schulsprecher Leonie und Felix, Klassensprecher der 4a und 4b, sitzen nebeneinander an dem runden Holztisch, greifen in die Schale mit Keksen und zählen die Kinderrechte auf. Das Recht auf Eltern, das Recht auf Bildung, das Recht, nicht geärgert zu werden, das Recht auf eine saubere Umwelt. „Die haben wir bei einem Kinderrechtetag gelernt“, sagt Leonie. „Das Kinderrecht mit dem Ärgern heißt aber auch, dass Erwachsene mit den Kindern nichts machen sollen, was sie eigentlich nicht dürfen.“ Die Namen der Kinder wurden auf Wunsch der Schule geändert.

Nach einem Spendenlauf der Schule, erklärt Felix, habe das Schülerparlament abgestimmt, an welche Organisation sie das gesammelte Geld spenden wollen. Die Kinder entschieden sich für „Wünsch dir was“ – eine Organisation, die todkranken Kindern Träume erfüllt.

Manche kleineren Dinge entscheiden die Kinder dagegen im Klassenverbund. „Wir haben im Klassenrat beschlossen, dass unsere Klasse bei einem Wettbewerb über Klimaschutz mitmacht“, sagt Leonie. Der Vorschlag kam von ihr. „Ich hatte davon in einem Heft gelesen. Wenn wir gewinnen, dürfen wir einen Ausflug auf einen Bauernhof machen.“

Programm soll idealerweise über die Schulmauern hinaus wirken

Das Schülerparlament und die Klassenräte haben auch den Blick der Lehrkräfte auf Abläufe an der Schule verändert. „Der Sponsorenlauf ist ein gutes Beispiel“, sagt Miriam Schmitz, die zusammen mit ihrer Kollegin Sonja Klinker das Schülerparlament betreut. „Wir dachten uns: Warum entscheiden wir über die Kinder hinweg, wohin wir das Geld spenden? Die Kinder sind ja gelaufen – wieso ziehen wir sie nicht zumindest in die Entscheidung mit ein?“

Auch über das Thema der Projektwoche habe sich das Kollegium jedes Jahr den Kopf zerbrochen. Heute entscheiden die Kinder mit. In den Klassenräten der ersten und zweiten Klasse machen die Lehrkräfte meist Vorschläge, über die die Kinder dann abstimmen. Bei älteren Kindern sei dies nicht mehr nötig.

Schwimmbad im Schulkeller? Nicht jeder Wunsch kann erfüllt werden

Natürlich seien nicht alle Vorschläge der Kinder realisierbar. Einen überdachten Fahrradständer kann keine Schule kurzerhand aufs Schulgelände zimmern. „Mein Highlight“, sagt Konrektorin Weißkamp, „war der Wunsch, ein Schwimmbad in den Keller zu bauen.“ Trotzdem seien auch solche Vorschläge wichtig. Sie zeigen Kindern, was für eine Schule realisierbar ist und was nicht.

Und manchmal zahlt sich Beharrlichkeit aus: Einmal wollte eine Klasse einen Ausflug in ein Jump House durchsetzen, obwohl dies kein außerschulischer Lernort ist. Doch die Kinder blieben hartnäckig, schrieben einen Brief an die Elternvertreter, luden sie in den Klassenrat ein und trugen ihnen ihre Argumente vor. Sie hatten gute Argumente – und die Elternvertreter stimmten ihrem Wunsch zu.

Die Kinderrechteschulen, so die Idee von UNICEF, soll die Rechte der Kinder idealerweise nicht erst ab dem Läuten der Schulklingel stärken. Die Wirkung soll sich auch in anderen, privaten Bereichen ihres jungen Lebens entfalten. Damit ein Kind, das in einem gewaltvollen Zuhause aufwächst, endgültig versteht: Das dürfen die Erwachsenen gar nicht. Damit verstoßen sie gegen meine Rechte. Und sich daraufhin Hilfe sucht.