Jürgen Kayser ist der neue Chef des NRW-Verfassungsschutzes. Er erläutert, wie gefährlich die Reichsbürger in NRW sind und welchen Einfluss der russische Geheimdienst hier hat.
Verfassungsschutz-Chef im Interview„Im Kölner Raum rechnen wir der Reichsbürgerszene rund 650 Unterstützer zu“
Herr Kayser, viele Menschen hat die Nachricht überrascht, dass die Reichsbürger einen gewaltsamen Umsturz geplant haben sollen. Wurde die Gruppe unterschätzt?
Jürgen Kayser: Nein. Die Sicherheitsbehörden in NRW haben die Reichsbürger schon lange im Blick. In der Vergangenheit ist es immer wieder zu schweren und schwersten Straftaten von Reichsbürgern gekommen, die den Staat und seine Vertreter ablehnen und zum Teil aktiv bekämpfen. Viele haben eine Affinität zu Waffen und versuchen, sich Waffen zu beschaffen. Das wollen wir verhindern. Unsere Erkenntnisse teilen wir deshalb den zuständigen Waffenbehörden mit, damit dort geprüft werden kann, eine Waffenerlaubnis zu entziehen.
In NRW gab bei der bundesweiten Razzia vergleichsweise wenig Einsätze. Ist die Szene in NRW weniger aktiv?
Leider nicht. Ab dem Jahr 2016 haben wir die Kommunen per Erlass aufgefordert, uns Hinweise auf reichsbürgertypisches Verhalten zum Beispiel im Schriftverkehr mit den Behörden zu geben. Deswegen haben wir einen guten Überblick. Derzeit gehen wir davon aus, dass die Szene in NRW rund 3400 Personen umfasst. Allein im Kölner Raum rechnen wir der Reichsbürgerszene rund 650 Unterstützer zu.
Reichbürger planten Restaurant in Köln
Wie gefährlich ist die Szene in NRW?
Sie ist nicht zu unterschätzen. Bundesweit haben wir bei rund zehn Prozent Hinweise auf Gewaltbereitschaft. Oft sind Reichsbürger durch die schwarz-weiß-rote Reichsflagge zu erkennen, die sie offen zur Schau stellen. Aber bisweilen treten sie auch in einem scheinbar seriösen Gewand auf. So wurde in Köln-Holweide versucht, ein Gemeinwohlrestaurant aufzumachen, in Düsseldorf wurde eine Kampfkunst-Schule eröffnet.
Der Anführer der Reichsbürger, Prinz Heinrich XIII., soll eine russische Freundin haben. Welche Rolle spielt die Verbindung zu Russland bei den Reichsbürgern?
In der Reichsbürgerszene herrschen pro-russische Narrative vor. Russland wird oft als Opfer einer Weltverschwörung betrachtet, die Putin dazu zwingt, sich gegen die angeblichen Expansionspläne der Nato in der Ukraine zur wehren. Russland hat ein Interesse daran, die deutsche Gesellschaft zu destabilisieren. Dazu bedient man sich auch der Reichsbürger, die von der russischen Regierung gezielt in ihrer kruden Weltsicht gestärkt werden.
Wie beurteilen Sie die Aktivitäten des russischen Geheimdienstes in NRW?
Das Auswärtige Amt hat im Frühjahr 40 russische Diplomaten ausgewiesen. Dadurch sind auch die nachrichtendienstlichen Aktivitäten geschwächt. Aber wir gehen davon aus, dass es weiterhin Einflussaktivitäten unterschiedlichster Art und Weise gibt.
Russland späht Kasernen mit Drohnen aus
Was heißt das?
In den sozialen Netzwerken werden Desinformationen über bestimmte Kanäle durch Influencer verbreitet, die ganz offensichtlich von Moskau unterstützt werden, wie Alina L.. Die hat 180.000 Follower und verbreitet Putin-Propaganda, indem sie vorgibt, Reporterin zu sein. Gleichzeitig müssen wir davon ausgehen, dass interessante Objekte gezielt ausgespäht werden, zum Beispiel Kasernen, in denen ukrainische Soldaten an Waffensystemen ausgebildet wurden. Da gab es Hinweise, dass diese mit Drohnen überflogen wurden.
Gibt es Hinweise darauf, dass die kritische Infrastruktur in NRW durch Russland bedroht wird?
Wir wissen, dass Russland sogenannte hybride Kriegsführung einsetzt. Das wird unter anderem beim Angriffskrieg auf die Ukraine deutlich. Daraus kann man ableiten, dass auch bei uns die kritischen Infrastrukturen bedroht sind. Der Ausfall des Bahnverkehrs in Norddeutschland hat kürzlich gezeigt, dass es zum Teil einfach ist, Infrastruktur lahmzulegen, wenn man an einem Knotenpunkt das richtige Kabel durchschneidet. Das müssen wir im Blick haben. Wir müssen davon ausgehen, dass ausländische Nachrichtendienste insbesondere auch unsere kritische Infrastruktur zum Gegenstand ihrer Aufklärung in Deutschland machen.
Geheimdienste werden immer wichtiger
Das Braunkohledorf Lützerath soll geräumt werden. Wie groß ist die Gefahr, dass Linksextremisten den bürgerlichen Protest unterwandern?
Teile der linksextremistischen Szene versuchen, innerhalb zivildemokratischer Proteste als „Bündnispartner“ aufzutreten und so ihre eigenen politischen Ziele einzubringen. Sie versuchen, die Bürgerlichen von der Notwendigkeit eines gewaltsamen Protests zu überzeugen. Zurzeit halten sich etwa 25 bis 30 Linksextremisten in Lützerath auf. Die Szene ist heterogen. Da gibt es Autonome, Anarchisten, Kommunisten und Anhänger einer Räterepublik. Wovon leben eigentlich die bürgerlichen Aktivisten, die zum Teil seit Monaten in Lützerath aufhalten?
Dazu haben wir keine Erkenntnisse, da die bürgerlichen Proteste nicht unter Beobachtung stehen.
Mitglieder der „Letzten Generation“ kleben sich auf Landebahnen und Straßen fest. Wird die „Letzte Generation“ auch vom Verfassungsschutz beobachtet?
Derzeit jedenfalls nicht. Es ist aktuell nicht erkennbar, dass die „Letzte Generation“ die freiheitlich demokratische Grundordnung ablehnt und die Demokratie abschaffen will. Ziviler Ungehorsam und politisch motivierte Straftaten reichen alleine nicht aus, um ins Visier des Verfassungsschutzes zu geraten.
Wir beobachten aber Linksextremisten, die das Ziel haben, das demokratische System zu beseitigen und dabei auch versuchen, auf die bürgerliche Klimaschutzbewegung Einfluss zu nehmen. Das beobachten wir zum Beispiel bei „Ende Gelände“, wo wir eine extremistische Beeinflussung durch die Interventionistische Linken sehen.
Werden die Geheimdienste der EU-Nationen perspektivisch eine wichtigere Rolle als vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine spielen?
Davon gehe ich aus. Von 2016 bis 2021 ist etwa die Zahl der Extremisten in NRW um 17 Prozent angestiegen. Extremisten gewinnen zudem immer mehr Anschluss an die sogenannte bürgerliche Mitte. Das ist eine Gefahr, die wir unbedingt im Blick behalten müssen und zeigt, dass der Verfassungsschutz als Frühwarnsystem wichtiger denn je ist.
Verfassungsschützer werden immer noch oft als „Schlapphüte“ bezeichnet. Finden Sie das lustig?
Ich kann darüber lachen. Mich stört vielmehr, wenn in der öffentlichen Diskussion unsachlich über die Rolle des Verfassungsschutzes diskutiert wird.