Wann sind psychisch Kranke gefährlich?Wie das LKA Amoktaten verhindern will
Düsseldorf – Die Nachtschicht hatte gerade begonnen, als die Polizeibeamten von der Leitstelle den Auftrag bekommen, eine vermeintlich gewöhnliche Ruhestörung zu beenden. Ein Mann steht mit nacktem Oberkörper am Fenster im ersten Stock eines Hauses und wirft unter lautem Geschrei Stühle auf die Straße.
Als die Polizisten in die Wohnung gelangen, machen sie eine überraschende Feststellung. Die Wände sind mit Alufolie ausgekleidet. Was soll denn das? Der Randalierer erklärt den Beamten, damit wolle er gefährliche Strahlung abwehren.
Der Mann lässt sich zwar beruhigen, aber er kommt den Beamten merkwürdig vor. Ist er einfach nur durch den Wind? Oder psychisch krank? Oder geht womöglich sogar eine Gefahr von ihm aus? Als die Polizisten feststellen, dass der Ruhestörer ein Waffen-Journal abonniert hat, melden sie den Vorgang ihrer Behörde. So wird die nächtliche Ruhestörung zu einem Prüf-Fall für „PeRiskoP“.
Die Zentralstelle des Projektes „PeRiskoP“ wurde unter der Leitung von Kriminaloberrat Boris Vieten im Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (LKA NRW) aufgebaut. Die Abkürzung steht für „Personen mit Risikopotenzial“. In allen 47 Kreispolizeibehörden Nordrhein-Westfalens gibt es Sachbearbeiter, die sich mit der Thematik befassen. Das Team hat die Aufgabe, eine Risikoanalyse für psychisch auffällige Menschen vorzunehmen. Das Ziel ist es, Amoktaten in NRW zu verhindern. Bereits im Fall eines Verdachts sollen die Ermittler eingreifen und so das Risiko schwerer Gewalttaten minimieren.
Gleiche Verhaltensmuster
Eine komplexe Aufgabe, an der die Polizei gemeinsam mit Wissenschaftlern und Psychologen arbeitet. Die Ermittler haben festgestellt, dass fast alle Amoktäter ähnliche Verhaltensmuster an den Tag legen. Oftmals liegt auch ein sogenanntes „Leaking“ vor, also ein Warnverhalten, das eine Früherkennung ermöglicht. Allerdings darf man psychische Erkrankungen niemals automatisch mit Gefährlichkeit gleichsetzen. Denn statistisch gesehen ist die Gefahr, dass psychisch Erkrankte Opfer einer Straftat werden, größer, als dass von ihnen selbst eine Bedrohung ausgeht. Bestimmte Krankheitsbilder und bereits erlebte Gewalterfahrung erhöhen aber das Risikopotenzial. „Deswegen beraten wir in Fallkonferenzen über das gemeinsame Vorgehen. Daran sind in der Regel Ordnungsbehörden, Psychologen, Psychiater und soziale Betreuer beteiligt“, so Vieten.
Täter sind oft polizeibekannt
Nach einer Amoktat stellt sich meist heraus, dass die Täter den Behörden im Vorfeld bekannt waren. Andere hätten versucht, sich im Internet Komponenten für den Waffenbau zu bestellen, und gerieten so in den Fokus der Ermittler. „Die Anbieter haben zum Teil selbst ein gutes Gefahrenradar und geben der Polizei im Verdachtsfall einen Hinweis“, so Vieten.
Auch Gerichtsvollzieher seien oft wertvolle Tippgeber, heiß es im LKA. Sie haben häufig Kontakt mit auffälligen Persönlichkeiten – und sehen viele Wohnungen von innen. Die Polizei kann sich meist erst dann ein konkretes Bild von den Lebensverhältnissen machen, wenn ein konkreter Verdacht für eine Straftat vorliegt.
Im Dezember 2020 raste ein 52-Jähriger Mann in Trier mit seinem Auto durch eine Fußgängerzone, sechs Menschen starben. 2018 kamen vier Menschen in Münster uns Leben, als ein 48-Jähriger am Kiepenkerl-Denkmal mit einem Kleinbus in eine Menge raste. Der Täter erschoss sich im Anschluss selbst. Eine Tragödie, die viele Menschen traumatisiert hat. Wäre sie zu verhindern gewesen?
Verhaltensänderungen als Warnsignal
Die tatsächliche Gefährlichkeit von psychisch auffälligen Personen ist schwer vorherzusagen. Ein Alarmsignal sind plötzliche Verhaltensänderungen. „Manche verkaufen alle ihre Sachen, werfen Ausweise weg, oder bezahlen alle noch offenen Rechnungen. Zum Teil machen sie Andeutungen über ein bevorstehendes Ereignis, von dem man demnächst noch viel sprechen werde. Amoktäter, die damit rechnen, von der Polizei erschossen zu werden, versuchen ihre Tat oft filmreif zu inszenieren“, berichtet Vieten.
Wenn sich Hinweise auf eine unmittelbar bevorstehende Straftat verdichten, schreiten die Beamten ein. „Unsere Netzwerkpartner versuchen, die Personen zu stabilisieren“, sagt der LKA-Ermittler und verweist auf viele ambulante Behandlungsmöglichkeiten. Die sind teils sehr niedrigschwellig und naheliegend: „Vielleicht können auch Jobangebote, die zu einem geregelten Tagesablauf führen, hilfreich sein. Bei der Ermittlung des Unterstützungsbedarfs müssen wir unsere unterschiedlichen Kompetenzen bündeln.“
Die Zahl der Prüffälle bewegt sich seit Projektstart von „PeRiskoP“ vor zwei Jahren in einem mittleren dreistelligen Bereich. Wie viele Bluttaten verhindert werden konnten, lässt sich nicht sagen. „Eine hundertprozentige Sicherheit kann es wegen der Dynamik im Vorfeld von Amoktaten nicht geben“, betont Vieten.
Schüsse im Berufskolleg
So war der Polizei in der Testphase ein 20-Järhiger aufgefallen, der sich mehrere Bücher zu Amoktaten ausgeliehen hatte. Obwohl er als Prüf-Fall in den Radar von „PeRiskoP“ geraten war, konnte er im Juni dieses Jahres nicht daran gehindert werden, mit Schreckschusspistole, Molotow-Cocktail und Dolch bewaffnet in ein Berufskolleg in Bielefeld-Senne zu gehen. Der Täter gab mehrere Schüsse ab. Schließlich rückten 150 SEK-Beamten an. Der Täter konnte auf dem Dach der Schule überwältigt werden, ohne dass jemand verletzt wurde.