Svanjas Sohn ist noch ein Teenager, als er zum ersten Mal in eine Entzugsklinik zieht. Zuhause kämpft seine Mutter neben der Sorge um ihr Kind mit den Tabus, die die Suchtkrankheit mit sich bringt.
„Die Angst lähmt dich“Wenn das eigene Kind drogenabhängig ist
Johann ist 16 Jahre alt, als er an einem Augustabend einfach verschwindet. „Mach dir keine Sorgen“, schreibt er seiner Mutter, „ich komme später nach Hause.“ „Was soll das heißen?“, antwortet sie. „Du musst morgen arbeiten, du kommst jetzt zurück!“
Doch das tut Johann nicht. Und seine Mutter Svanja macht sich nicht einfach Sorgen: Sie hat furchtbare Angst. Die ganze Nacht sucht sie ihn, steuert jeden öffentlichen Platz an, jeden Treffpunkt für Jugendliche, sie alarmiert Johanns Vater, der in den frühen Morgenstunden die Polizei verständigt. Wieso jetzt? Es ging doch gerade bergauf, denkt Svanja. Johann ist doch gerade erst aus der Klinik für suchtkranke Jugendliche entlassen worden, er hat seinen ersten Ausbildungstag hinter sich, die Chance auf ein normales Leben.
Irgendwann gehen die Nachrichten an Johann nicht mehr durch. Sein Handy ist aus. Und Svanja geht nach Hause, sitzt am Küchentisch und fragt sich, ob ihr Kind noch lebt. „Diese Angst lähmt dich“, sagt Svanja. „Ich dachte, ich werde wahnsinnig, denn ich konnte nichts tun.“ Es ist sieben Uhr morgens, als Johann nach Hause kommt. Berauscht von Ecstasy, Amphetaminen und anderen Drogen, die er heute selber nicht mehr aufzählen kann. Die Drogen sind Svanja in dem Moment völlig egal. Hauptsache, ihr Kind ist zurück.
Der Grenzgänger
„Johann ist ein Grenzgänger“, sagt Svanja, die wie Johann eigentlich anders heißt. „Und das seit Minute eins.“ Wenn Svanja auf der Straße Mütter sieht, deren Kinder ihnen friedlich auf einem Laufrad folgen, dann denkt sie: Bei uns wäre das anders gewesen. Johann wäre abgedüst, Svanja wäre ihm über die Straße hinterhergerannt. Johann tackerte sich im Kindergarten in die Hand, er kletterte in der Grundschule über meterhohe Zäune, einfach, um es auszuprobieren. Mit sieben Jahren diagnostiziert eine Kinderpsychiaterin bei ihm ADHS.
Als Johann knapp 15 Jahre alt ist, erlaubt Svanja ihm, mit ein paar Freunden in der Gartenhütte abends Bier zu trinken. Hab ich ja auch in seinem Alter so gemacht, dachte sie. Heute sieht sie das anders.
Svanja hat ihm die Sucht nicht angesehen. Er lallte nicht, er hatte keine Fahne, er ging jeden Morgen zur Schule und kam jeden Nachmittag zurück, er zog sich in sein Zimmer zurück, wie die meisten Teenager in seinem Alter.
Im Herbst 2020 ruft Johanns Kinderpsychiaterin an, die er wegen seinem ADHS regelmäßig sieht. Johann sitzt gerade bei mir, sagt sie, kommen Sie und ihr Ex-Mann bitte jetzt vorbei. Er glaube, er habe ein Problem mit Alkohol, habe Johann zu ihr gesagt. Er trinke jeden Tag, morgens, abends vor dem Einschlafen, eine halbe Flasche Wodka täglich. „Bis zu dem Tag habe ich gedacht, ich hätte meinen Job als Mutter eigentlich ganz gut gemacht“, sagt Svanja. „Dann habe ich nach dem Tag gesucht, an dem alles schiefgelaufen ist.“
„Du gibst dir zu oft die Schuld“, sagt Johann. Er ist aus seinem Zimmer gekommen, hat sich ans Tischende gesetzt, schräg neben seine Mutter, und angelt ein paar Gummibären aus einer Schale. „Ich kriege echt ‘nen Rappel, wenn sich jemand die Schuld für mein Fehlverhalten gibt.“
Svanja sucht sich Hilfe bei der Caritas
Johann ist heute 18 Jahre alt. Ein gewitzter Teenager, der reflektierter und offener spricht als viele Erwachsene. Ein Erwachsener, der noch lernt, Lob anzunehmen und selbst auf seine Erfolge voller Selbstkritik zu blicken scheint. Er und seine Mutter wirken heute wie ein Team. Zwar nicht immer einer Meinung, aber immer voller Respekt voreinander.
Das war nicht immer so. Im Dezember 2020 beginnt Johann seinen Entzug, die nächsten sechs Monate verbringt er in einer Klinik für Langzeittherapie und macht dort seinen Schulabschluss. Währenddessen kontaktiert Svanja eine Drogenberatungsstelle der Caritas, einmal die Woche geht sie von nun an mit einer Mitarbeiterin spazieren. Sie lässt Svanja erzählen, wenn sie von Johann und der Therapie in der Klinik spricht, von ihren Sorgen, stellt nur zwischendrin ein paar Fragen.
Im Juni 2021 kehrt Johann aus der Klinik zurück, wenige Wochen später beginnt er seine Ausbildung. Am ersten Ausbildungstag wird er rückfällig und verschwindet für die ganze Nacht. In der Klinik hatte er andere Jugendliche kennengelernt, die sich mit ihrer Drogenerfahrung brüsteten und von dem Rausch von Ecstasy, Opioiden und Amphetaminen erzählten. Und genau wie Johann als Kind mit dem Bobbycar die Treppe herunterfuhr, um zu gucken, was passiert, probiert er sie aus.
Junge, was hast du genommen?, fragt der Notarzt
Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ist angespannt. Svanja findet Alkohol in Johanns Zimmer, er findet abends die ausgekippte Wodkaflasche in der Spüle. Svanja will zerstören, was ihr Kind kaputt macht, würde am liebsten ihren Frust an jedem Dealer auf den Bahnhofvorplätzen auslassen. Sie weiß, dass er wieder konsumiert, dieses Mal nicht nur Alkohol, wenn Johanns Pupillen sich weiten wie schwarze Löcher, wenn er nuschelnd und träge vor ihr steht, körperlich da, geistig im Rausch.
Was nimmst du, Johann?
Nichts.
Steh auf, du musst zur Arbeit.
Lass mich in Ruhe.
Johann, du musst etwas essen.
Nein, geh mir nicht auf die Nerven.
Heute hat Alex Geburtstag, du musst ihm noch gratulieren.
Muss ich nicht, scheiß auf den.
Als seine Freunde ihn an einem Abend nach Hause bringen, kann Johann kaum noch stehen. Er schleppt sich zur Toilette und übergibt sich. Es ist mitten in der Woche, eigentlich muss er am nächsten Tag arbeiten. Svanja kocht vor Wut. Heute ist mir einmal alles egal, denkt sie.
Mama, ich brauche einen Arzt, ruf einen Krankenwagen.
Ruf doch selber einen Krankenwagen. Ich hab keinen Bock mehr auf den Scheiß.
Ruf einen Krankenwagen!
Junge, was hast du genommen?, fragt der Notarzt. Benzos, antwortet Johann. Zehn Tabletten, vielleicht mehr. Wenn man das Schlafmedikament Benzodiazepin zerkaut und auf der Zunge zergehen lässt, löst es einen Rausch aus. Johann nimmt es seit ein paar Monaten regelmäßig, neben Ecstasy und den Schmerzmitteln Tilidin und Fentanyl - ein Opioid, das hundertmal stärker wirkt als Morphium.
Der Notarzt folgt Johanns Beschreibung von seinem Versteck an Opioiden und Benzodiazepinen, geht in sein Zimmer und nimmt die restlichen Tabletten mit. Dann fahren die Sanitäter Johann auf die Kinderintensivstation. Und Svanja sucht erneut nach Entzugskliniken.
Ein Entschluss, den sie nie für möglich gehalten hätte
Als Johann aus dem Krankenhaus entlassen wird, sieht er das leere Versteck. Dass er den Notarzt selbst zu den Drogen gelotst hat, weiß er nicht mehr.
Wo sind die Tabletten?
Die hast du dem Arzt selber mitgegeben.
Er glaubt ihr nicht.
Ich gehe mir jetzt was Neues holen.
An diesem Tag kauft sich Johann zum ersten Mal Heroin.
Nach dem Entzug bleibt er für kurze Zeit clean, dann beginnt Johann, mittlerweile 17 Jahre alt, mehrmals täglich Heroin zu rauchen. Wie zuvor geht Johann weiter zur Arbeit, wie zuvor sagt er seiner Mutter nichts von dem Konsum, wie zuvor spürt sie es trotzdem.
Winter 2022. Als das Geld für neues Heroin fehlt, öffnet Johann sich seiner Mutter. Es liegt an dir, wenn du damit aufhören willst, sagt sie. Aber dann kümmere dich darum. Johann ruft selber bei einer Klinik an, macht einen Termin für den Entzug aus. Und Svanja fasst gemeinsam mit ihrem Ex-Mann einen Entschluss, den sie vorher nie für möglich gehalten hätten: Sie bezahlen Johann für zwei Wochen das Heroin. So lange, bis er in die Klinik einziehen kann. „Das ist total verrückt“, sagt Svanja. „Du weißt, er fährt jetzt mit deinem Geld zu irgendeinen verdammten Dealer am Bahnhof. Und du weißt nicht, was der ihm dann verkauft.“
„Das ist die längste Zeit, die ich seit Oktober 2020 clean war“
Zu Karneval 2023 ist Johann wieder in einer Entzugsklinik, wie im Jahr zuvor und dem Jahr davor. Im Frühjahr wird er noch einmal rückfällig, seitdem, vier Monate ist es her, hat er nichts mehr konsumiert. „Das ist die längste Zeit, die ich seit Oktober 2020 clean war“, sagt Johann. „Ich bin froh, dass Johann sich immer wieder zurückkämpft und drogenfrei leben will“, sagt Svanja. „Das muss von ihm kommen. Alles, was ich als Mutter tun kann, ist ihm ein Zuhause bieten und zeigen: Du bist gut so, wie du bist. Mit deiner Erkrankung oder ohne.“
Als sie vor drei Jahren von der Suchterkrankung ihres Kindes erfahren hat, sagt Svanja, hätte sie am liebsten eine Nummer gehabt, bei der sie anrufen kann und jemand ihr sagt: Das und das musst du jetzt für dein Kind tun. Und hier ist eine Liste an Dingen, die du tun kannst, um diese Zeit durchzustehen. Eine Nummer, die es natürlich nicht gibt. Eine ähnliche Wirkung hatte jedoch der Kontakt zu der Selbsthilfegruppe für Eltern drogenabhängiger Kinder. Im Frühjahr 2022 hatte die Caritas-Mitarbeiterin Svanja von der neu gegründeten Gruppe erzählt; Leiterin ist eine Mutter, deren Sohn jahrelang heroinabhängig war. „Die Selbsthilfegruppe hat mich zu einem anderen Menschen gemacht“, sagt Svanja. Hier kommen Eltern zusammen, die nicht nur Verständnis zeigen, sondern ihre Situation nachvollziehen können. Sie bieten einander einen Raum, um Ängste zu teilen, einen Raum, in dem auch gelacht, aber niemals geurteilt wird.
Gemeinsam belegen die Eltern ein Seminar zur „motivierenden Gesprächsführung“: Ein Konzept, welches Eltern ermuntert, die Gründe für die Sucht kennenzulernen. Fragen zu stellen, vor denen sie oft Angst haben, weil sie keine Zustimmung oder gar Erlaubnis für den Konsum signalisieren wollen, die ihnen aber helfen, das Verhalten ihrer Kinder zu verstehen. Was löst die Droge in dir aus? Was macht sie für dich so attraktiv? „Seitdem kam von ihr weniger dieses: Hör auf, Drogen zu nehmen! Ja lustig, wenn’s so einfach wäre“, sagt Johann. „Sie zeigt mehr Verständnis. Und wenn ich heute einen schlechten Tag habe und einfach allein sein will, dann lässt sie mich eher in Ruhe.“
Das Tabu der Sucht
In den drei Jahren der Sucht hörte Svanja auf, alles alleine lösen zu wollen. Sie rief Johanns Vater an, wenn sie glaubte, ihr Sohn würde wieder Drogen nehmen, sie rief ihn auch an, wenn ihr alles zu viel wurde, damit Johann ein Wochenende bei seinem Vater blieb. Damit sie einmal ausschlafen konnte, ohne auf die Haustür zu horchen. Und sie hörte auf, sein Zimmer nach Drogen und Alkohol zu durchsuchen. Wenn Johann konsumieren will, dann würde er einen Weg finden.
Geschämt hat sie sich für ihr Kind nie, sagt Svanja. Ganz im Gegenteil. Sie ist stolz, dass Johann sich nach jedem Rückfall wieder zurückkämpfte, dass er trotz der Krankheit seine Ausbildung bald beenden wird, dass sie einen offenen, humorvollen und höflichen Sohn hat. Außerhalb der Selbsthilfegruppe wissen nur eine Handvoll Menschen von den Drogen. Dafür sei das Tabu, die Vorurteile noch zu groß.
Auch Johann behält seine Suchterkrankung meist für sich. Seinem Chef hat er vor Beginn der Ausbildung davon erzählt. Vermutlich hätte er es eh mitbekommen, bei all den Klinikaufenthalten und Krankheitstagen. Er unterstützt ihn. Denn: Trotz allem ist Johann ein talentierter Handwerker. Seinen Kollegen sagt Johann nichts von seiner Sucht. Letztens sind sie zusammen durch die Düsseldorfer Altstadt gefahren, vorbei an Drogenabhängigen, die am Straßenrand schliefen. So sah ich auch mal aus, dachte Johann. „Abschaum“, sagte sein Kollege. „Direkt erschießen.“
Ein langer Weg
In der Selbsthilfegruppen sprechen die Eltern von einer Spirale des Drogenkonsums, in der es immer auf und ab geht. „Ich bin fest davon überzeugt, dass es irgendwann Klick macht und er die Drogen nicht mehr braucht“, sagt Svanja. Die Angst sitzt jedoch noch tief. Sie kriecht hervor, wenn Johann am Wochenende mit seinen Freunden feiern geht, wenn er auf eine Nachricht nicht direkt antwortet.
Ob Johann im Frühjahr zum allerletzten Mal rückfällig geworden ist, das weiß niemand. Man müsse sich vor der Hoffnung schützen, dass das Thema Drogen für immer durch ist, sagt Svanja. „Ansonsten ist die Enttäuschung doppelt so groß.“ Aber Johann sei auf dem richtigen Weg. „Vielleicht gehen wir auf diesem Weg auch wieder ein paar Schritte zurück“, sagt sie. „Aber wir stehen nicht mehr am Anfang.“
Haben Sie Angehörige, die suchtkrank sind? Hier finden Sie Hilfe.
Zahlreiche Eltern drogenabhängiger Kinder haben sich zu Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen. Interessierte aus Köln können sich bei Helmut Rölle und Ilka Müller unter der Nummer 0221/688117 melden.
In Nordrhein-Westfalen gibt es 40 weitere Selbsthilfegruppen für Eltern oder weitere Angehörige von drogenabhängigen Menschen. Eine vollständige Liste inklusive Kontaktmöglichkeiten finden Sie auf www.arwed-nrw.de
Alle Suchtberatungsstellen der Caritas und der Diakonie beraten Betroffene und ihre Angehörigen, immer kostenlos, auf Wunsch auch anonym. Beratungsstellen in Ihrer Region finden Sie hier.Die Caritas im Erzbistum Köln berät Angehörige zudem auch online über die Webseite der Caritas, auch die DigiSucht bietet eine Online-Beratung an.