Die Forderungen nach Abschüssen werden immer lauter: Bis Mitte Dezember gab es 2024 insgesamt 84 Wolfsangriffe in NRW – deutlich mehr als in den Vorjahren.
Wölfe in NRWWie Gloria einen Zaun überwindet, der zu hoch für sie sein sollte
Drei Meter vor, drei Meter zurück, und immer wieder kratzt Gloria mit ihren Pfoten in der Erde des unbestellten Ackers. Vermutlich, um zu testen, wie fest der Untergrund ist. Noch einmal kurz nach links und rechts geschaut, dann läuft die deutschlandweit bekannte Wölfin los und springt mühelos über den vor ihr liegenden Zaun, der die Schafe dahinter schützen sollte. Das Überwachungsvideo, mitten in der Nacht aufgenommen, zeigt die Szene genau.
„Fast schon elegant springt die Wölfin etwa fünf Meter weit und locker 1,80 Meter hoch auf unsere Streuobstwiese“, sagt Jochen Peters, ein Landwirt aus dem nordrhein-westfälischen Schermbeck, der eigentlich anders heißt. Der 48-Jährige möchte seien richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen, um nicht zu viele „Wolfstouristen“ anzulocken.
„Wir sind überzeugte Weidetierhalter. Kühe, Rinder und Schafe gehören ins Freie“, sagt Peters: „Aber jetzt wissen wir auch nicht mehr weiter.“ Denn der Sprung von Problemwölfin Gloria war ein Schock für die Familie. Der eigens für solche Attacken im Sommer vergangenen Jahres aufgestellte stromführende Zaun ist 1,45 Meter hoch. Lediglich 1,20 Meter wären nötig gewesen, um Fördergeld aus Landesmitteln zu bekommen. „Wir wollten auf Nummer sicher gehen“, erklärt Peters die höhere Investition. Über 30.000 Euro hat der Zaun gekostet. Viele Arbeitsstunden nicht eingerechnet. 10.000 Euro kamen vom Land.
273 Nutztiere wurden im vergangenen Jahr von Wölfen in NRW getötet
„Und jetzt ist alles umsonst gewesen“, sagt Peters wütend. Auch die Stromleitung im Boden. Denn das Überwachungsvideo zeigt, dass die Wölfin noch nicht einmal versucht hat, den Zaun zu untergraben, bevor sie ihn leicht übersprungen hat. „So ist das, wenn die Realität sich nicht an die Vermutungen und Prognosen der so genannten Experten hält“, sagt Peters.
Immer mehr Wölfe kommen seit 2016 nach NRW, womit auch die Probleme mit den Tieren immer größer werden. Gerissenes Nutzvieh ist längst keine Seltenheit mehr. In den ersten beiden Wochen des vergangenen Novembers beispielsweise wurden zwölf Fälle gemeldet. In Euskirchen gab es eine tote Ziege und zwei schwerverletzte Schafe, im Rhein-Sieg-Kreis ein totes und ein verschwundenes Lamm und in Herscheid nach zwei Angriffen sieben tote und acht verletze Schafe.
Bis Mitte Dezember hat das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz (Lanuv) insgesamt 84 Angriffe registriert, bei denen 273 Nutztiere getötet oder verletzt wurden. 67 Fälle konnten eindeutig Wölfen zugeordnet werden, 17 weitere werden nach Angaben des Lanuv noch untersucht. Zum Vergleich: 2023 gab es 53 bestätigte Wolfsangriffe, 2022 waren es 49 und 2021 nur 47.
Bundesamt geht von mindestens 14 Wölfen in NRW aus
Laut dem Bundesamt für Naturschutz (BfN) gibt es bundesweit 1601 registrierte „Wolfsindividuen“, in NRW gibt es acht Territorien mit mindestens 14 Tieren. Im Umkreis von etwa 100 Kilometern zu Köln wären dies der Großraum Schermbeck, das Märkische Sauerland, das Oberbergische Land sowie zwei belgische Wolfsrudel, die auch durch die NRW-Territorien „Hohes Venn“ und „Eifel-Hohes Venn“ streifen. In diesen beiden Rudeln sowie in Schermbeck, im Oberbergischen bei Leuscheid sowie im Rhein-Sieg-Kreis ist Beobachtern zufolge im vergangenen Jahr Nachwuchs gesichtet worden. In der Eifel wurden durch Fotos und ein Video sogar sieben Wolfswelpen und Jährlinge, also Wölfe im zweiten Lebensjahr, nachgewiesen. Sie alle gehören zu demselben Wolfsrudel. Das geht aus Genanalysen mit Kot hervor.
Aber die Wolfs-Wissenschaft ist kompliziert und gründlich. Denn das nordrhein-westfälische Landesamt bestätigt nur acht statt 14 Tiere, die sich dauerhaft und ausschließlich in NRW aufhalten. „Von einer Ansiedelung sprechen wir erst dann, wenn über sechs Monate hinweg ein einzelnes Tier in einem Gebiet mehrfach nachgewiesen wird“, erklärte eine Sprecherin der Behörde.
Gloria hat beim Sprung über den Zaun sogar ein Schaf mitgenommen
„Ach was“, meint Landwirt und Jäger Peters, „die offiziellen Zahlen stimmen doch sowieso nicht, die hängen unendlich hinterher“. Alleine im Bereich Schermbeck/Westmünsterland würde es etwa zehn Wölfe geben. Beim gefilmten Besuch auf seinem Hof ist Gloria nach wenigen Sekunden geflohen, weil sie wohl durch etwas erschreckt wurde. Zwei Monate zuvor jedoch war sie vermutlich schon einmal da, damals wurde ein Schaf getötet. Ein anderes, das Peters‘ Tochter mit der Flasche großgezogen hatte, nahm Gloria beim Sprung zurück ins Freie mit.
Bereits jetzt stünden die immensen Kosten für den Zaun in keinem Verhältnis zum Wert der Herde, der höchstens 1000 Euro betrage, beklagt Peters. „Das Ergebnis ist, dass zahlreiche Schafshalter in der Umgebung bereits aufgegeben haben.“ Werde er denn jetzt trotzdem noch einen höheren Zaun bauen? „Das ist doch verschwendetes Geld“, schimpft der Niederrheiner. „Und wollen wir unsere Kulturlandschaft denn tatsächlich durch zwei Meter hohe Gitterzäune mit Stacheldraht wie im Industriegebiet verschandeln?“, fragt er. Wenn die Wolfspopulation weiter wachse, werde in seiner Gegend in zwei bis drei Jahren zudem die Nahrung für die Tiere knapp. Das Rotwild sei jetzt schon deutlich dezimiert, weiß der Jäger. „Und nach Schafen und Pferden sind irgendwann auch unsere Kühe dran.“
Landesregierung will Abschüsse möglich machen
In einem gemeinsamen Antrag hatten die Regierungsparteien CDU und Grüne im November 2024 betont, „das Zusammenleben von Weidetieren und Wölfen in NRW durch Finanzierung von Herdenschutzmaßnahmen und Entschädigungszahlungen auf der einen Seite und den konsequenten Abschuss von verhaltensauffälligen Wölfen auf der anderen Seite zu ermöglichen“. Zuvor hatte NRW-Umweltminister Oliver Krischer (Grüne) die Ankündigung der EU-Staaten, den Schutzstatus von Wölfen absenken zu wollen, begrüßt. „Das wird uns in Zukunft helfen, Wölfe, die erhebliche Schäden verursachen, entnehmen zu können“, sagte der Minister. Allerdings sei davon auszugehen, dass bis zur Umsetzung noch längere Zeit vergehe.
Bisher jedenfalls ist in NRW noch kein Wolf „entnommen worden“, wie die Tötung in Fachkreisen verniedlichend genannt wird. Das ganze Dilemma zeigt sich beispielsweise an „Promiwölfin“ Gloria. Der Kreis Wesel hatte sie Ende 2023 zum Abschuss freigegeben, weil sie zahlreiche Weidetiere gerissen hatte. Doch die „Gesellschaft zum Schutz der Wölfe“ und der Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) prozessierten dagegen. Gloria sei das einzige Weibchen am Niederrhein, argumentierten die Tierschützer unter anderem. Wenn sie erschossen werde, könne sich das Rudel nicht mehr fortpflanzen. Das Düsseldorfer Verwaltungsgericht stellte fest, dass die Sachlage zunächst geprüft werden müsse.
Landwirtschaftsverband spricht von einer „neuen Dimension“ der Angriffe
Laut NRW-Umweltministerium ist diese Prüfung bislang nicht abgeschlossen – und so lange springt Gloria weiter über den Zaun von Landwirt Peters. „Ich habe nichts gegen die Tiere“, sagt der. Aber wenn die Wölfe sich „unkontrolliert und unantastbar“ verbreiten dürften, müsse dies doch zwangsläufig zu Problemen führen. „Die Umweltschutzverbände loben uns einerseits dafür, dass wir unsere Schafe und Rinder frei auf der Wiese grasen lassen. Andererseits sitzen die abends in TV-Talkshows und verteufeln jede Wolf-Entnahmen“, so Peters: „Wie soll das denn funktionieren?“
Gar nicht, meinen der Rheinische und der Westfälisch-Lippische Landwirtschaftsverband. Ein „grundlegendes Umdenken“ im Umgang mit Wölfen sei notwendig. Nicht nur die Anzahl, sondern auch die Qualität der Angriffe habe „eine neue Dimension erreicht“, erklärte eine Sprecherin des Rheinischen Verbandes. Zunehmend würden auch größere Tiere wie Rinder attackiert. Ein „aktives Bestandsmanagement“ sei notwendig, einschließlich der Entnahme einzelner Tiere.
Tierschützer halten Abschüsse für überflüssig und sinnlos
Die Abschussforderung wiederum empört die Tierschützer. Der Anstieg der Risszahlen im Jahr 2024 müsse differenziert betrachtet werden, meint etwa der Naturschutzbund NRW (Nabu). In den neueren Wolfsgebieten seien vermutlich viele Herdenschutzmaßnahmen noch nicht vollständig umgesetzt. Der Abschuss einzelner Tiere jedenfalls löse das Problem nicht. Stattdessen drohe dies die soziale Struktur im Rudel zu zerstören, was vermutlich zu noch mehr Übergriffen führe. Nur konsequenter und flächendeckender Herdenschutz könne die Konflikte mit Wölfen reduzieren, sagt auch Holger Sticht, nordrhein-westfälischer Landesvorsitzender des BUND: „Eine Bejagung des Wolfes bietet keinen dauerhaften und nachhaltigen Herdenschutz – wissenschaftliche Studien und ein Blick in unsere Nachbarländer beweisen das.“
Das nordrhein-westfälische Umweltministerium äußert sich zum deutlichen Anstieg der Risszahlen nicht. Im kommenden Jahr jedoch werde man Herdenschutzmaßnahmen nicht nur in Teilen des Landes, sondern in ganz NRW fördern. Zudem verwies eine Sprecherin auf eine Studie des Bundesamts für Naturschutz, die zeige, „dass größere Teile von NRW für eine dauerhafte Ansiedlung von Wölfen nicht geeignet sind“.
Vier Wölfe kamen bei der Durchreise auch nach Köln
In Köln gab es bisher vier Wolfsnachweise. Es handelte sich ausschließlich um Tiere, die auf der Durchreise waren. Im Jahr 2019 wurde einer von einer Fotofalle erwischt, 2021 ein weiterer gesichtet und von einem drittem wurden Kotspuren gefunden. Im Mai 2021 lief ein Wolf durch den Stadtteil Ehrenfeld. Ein seit 2010 europaweit laufendes DNA-Monitoring, in dem das Tier bereits akribisch erfasst worden war, brachte Aufklärung. Es handelte sich um den Wolf „GW2119m“, der zum sogenannten „Haplotyp“ HW22 gehörte. Ein genetisches Merkmal, das die Alpenpopulation, also Tiere aus Italien, Frankreich und der Schweiz, kennzeichnet.
Auf der Suche nach einem eigenen Territorium hatte sich das Jungtier nach Köln verirrt. Dass es identifiziert werden konnte, hatte mit seinem Jagdtrieb zu tun: Nach dem Abzug aus der Großstadt tötete der Wolf in der nördlichen Rheinaue vier Schafe und hinterließ dabei jede Menge DNA-Spuren.