- Inzwischen sind in NRW bereits mehr als 50.000 Schüler und 3600 Lehrer in Quarantäne.
- Ist es da nicht nur eine Frage der Zeit bis der Präsenzunterricht wieder komplett ausgesetzt wird?
- NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer im Gespräch über Unterrichtsformen in Corona-Zeiten, das Recht auf Bildung und Kritik an ihrer Person.
Frau Gebauer, mit der steigenden Zahl an Coronafällen an Schulen wird der Ruf nach geteilten Klassen und Wechselunterricht immer lauter. Warum stellen Sie sich so vehement gegen dieses Modell und setzen ausschließlich auf Lüften und Präsenzunterricht in Klassenstärke?
Yvonne Gebauer: Ich verweigere mich keinen Modellen. Ich bin offen für alle Unterrichtsmodelle, die dem Wohl der Kinder und dem Bildungsauftrag dienen. Dazu zählt unter bestimmten Voraussetzungen auch der Wechselunterricht. Schulen, die keine Möglichkeit mehr sehen, den Präsenzunterricht sicherzustellen, können die Umstellung auf den Wechsel von Präsenz- und Distanzunterricht bei der Schulaufsicht anzeigen. Die Grundlage dafür ist bereits seit Beginn des Schuljahres vorhanden.
Aber in Solingen haben Sie das als Landesregierung nicht genehmigt...
Die Stadt Solingen hatte eine stadtweite und keine schulscharfe Umstellung geplant. Das Infektionsgeschehen an den einzelnen Schulen ist dabei nicht berücksichtigt worden. Auch gab es keinerlei Konzeption, die der Schulaufsicht bekannt gewesen wäre und die sichergestellt hätte, dass alle Schülerinnen und Schüler weiterhin ausreichend beschult werden können. Eine flächendeckende, pauschale Umstellung darf aber nicht die Lösung sein. Der Wechselunterricht kann zum jetzigen Zeitpunkt Ausnahme sein, wenn alle anderen Mittel vor Ort ausgeschöpft sind.
Kölner Schulleiter haben mehr Entscheidungsspielräume vor Ort eingefordert. Auch Bundesbildungsministerin Anja Karliczek hat die Schulminister der Länder aufgefordert, mehr Freiheiten zu gewähren. Jetzt sagen Sie: Die Schulleiter haben längst die Freiheit, auf Wechselunterricht umzustellen. Gibt es ein Kommunikationsproblem zwischen Ihnen und den Schulen?
Wir haben das Konzept für den angepassten Schulbetrieb frühzeitig in Schulmails kommuniziert. Und zwar schon zu Beginn des Schuljahrs. Wir nehmen die aktuelle Diskussion aber zum Anlass, das noch einmal klarzustellen.
Zur Person
Yvonne Gebauer (FDP) ist seit 2012 Mitglied im NRW-Landtag und seit 2017 Bildungsministerin unter Armin Laschet. Die 54-Jährige wuchs in Köln auf und besuchte dort das Heinrich-Heine-Gymnasium in Ostheim. Schon als Schülerin trat sie mit 16 Jahren in die FDP ein.
Inzwischen sind in NRW bereits mehr als 50.000 Schüler und 3600 Lehrer in Quarantäne. Ist es nicht nur eine Frage der Zeit bis der Präsenzunterricht wieder komplett ausgesetzt wird?
Die Kinder haben einen Anspruch auf Bildung. Darum ist unser Ziel, so lange wie möglich den Präsenzunterricht durchzuführen. Wir haben unser privates und öffentliches Leben zurückgefahren, gerade auch um Schulen und Kitas offenzuhalten. Und: Es gibt zwar auch an Schulen mehr Infektionen, aber die Schulen sind nach wie vor keine Hotspots. Auch deshalb, weil wir in Bezug auf das Maskentragen in Schulen das Land mit den strengsten Maßnahmen sind.
Müssten Sie angesichts angesichts der steigenden Zahlen in NRW nicht auch an Grundschulen die Maskenpflicht im Unterricht anordnen so wie Bildungsministerin Anja Karliczek das gefordert hat?
Das kann ich mir zum jetzigen Zeitpunkt so pauschal nicht vorstellen. Studien geben das nicht her.
Finden Sie es eigentlich hilfreich, dass Ihnen die Bundesbildungsministerin öffentlich Ratschläge gibt?
Nein, allein schon deswegen, weil die Bundesbildungsministerin hier keinerlei Zuständigkeit hat. Wir haben in Nordrhein-Westfalen einen klaren Kurs. So viel Präsenzunterricht wie möglich bei klaren Vorgaben für den Infektionsschutz.
Die Stadt Dortmund will in Eigenregie eine Maskenpflicht in den Grundschulen anordnen, weil dort ein Drittel der Grundschulen von Corona betroffen sind. Werden Sie da Ihr Veto einlegen?
Nein, das sind Maßnahmen, die Städte aufgrund eines hohen Infektionsgeschehens anordnen können. Auch in Krefeld ist das geplant. Ein solches Vorgehen begrüßen wir immer dann, wenn eine schulscharfe Betrachtung des Infektionsgeschehens vorangegangen ist.
Wenn Bildungsgerechtigkeit der Landesregierung so wichtig ist: Warum finanziert das Land nicht in Luftreinigungsanlagen für alle Schulen, um den Präsenzunterricht aufrechterhalten zu können?
Der Bund hat ein Förderprogramm aufgelegt, in dessen Rahmen 100 Millionen Euro investiert werden in Gebäude, Fenster und fest installierte Luftreinigungsanlagen. Mobile Luftfilter für Klassen fallen nicht unter die Förderung des Bundes. Deshalb hat das Land ein Sonderprogramm in Höhe von 50 Millionen zur Verfügung gestellt für mobile Luftfiltergeräte für Schulen und Sporthallen, die nicht ausreichend belüftet werden können.
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Viele Lehrer haben Angst um ihre Gesundheit. Schulleitungen berichten, dass ihre Kollegien über der Belastungsgrenze arbeiten. Schulleiter schlagen sich Nächte um die Ohren, um über Sitzplänen von Klassen zu brüten und den überforderten Gesundheitsämtern die Nachverfolgung der Corona-Fälle abzunehmen. Wie gehen Sie mit Ihrer Fürsorgepflicht gegenüber Lehrerinnen und Lehrern um?
Die habe ich und die nehme ich auch sehr ernst. Keine Lehrkraft in NRW muss Unterricht erteilen, wenn ein Arzt aus Gesundheitsgründen per Attest davon abrät. So habe ich das in NRW geregelt. Wir haben gemeinsam mit den Kommunen ein umfassendes Konzept für den Infektionsschutz insbesondere für den Schutz vorerkrankter Lehrkräfte. Wir sind eines der wenigen Bundesländer, das Testungen von Lehrkräften ermöglicht. Bis zu den Herbstferien konnten sich Lehrer fünf Mal testen lassen, bis zu den Weihnachtsferien weitere drei Mal.
Plant das Land, die Lehrer mit FFP-2-Masken auszustatten, um für diese Gruppe mehr Sicherheit zu schaffen?
Wir hatten den Schulen in NRW bereits zu Beginn des Schuljahres 1,1 Millionen FFP2-Masken zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus ein Budget von 2,2 Millionen Euro, um Alltagsmasken zu beschaffen. Von den rund 900.000 Euro, die bis jetzt nicht abgerufen wurden, sollen weitere FFP2-Masken für die Lehrer gekauft werden. Eine besondere Ausstattung in Höhe von 700.000 Euro gab es allein für die gut 400 Förderschulen.
Lehrer, Schüler und Eltern stehen auch deshalb unter Druck, weil der Schulstoff - trotz Lockdown im Rücken und ständigen Unterbrechungen durch Lüften - unvermindert durgezogen werden muss. Wäre es nicht an der Zeit, den Unterrichtsstoff abzuspecken statt weiter so zu tun, als handele es sich um ein normales Schuljahr?
Die Lehrerinnen und Lehrer in NRW gehen sehr verantwortungsbewusst mit der Lage um und schauen, was in welchem Vertiefungsgrad zu leisten ist und wo schulinterne Spielräume bestehen. Im Zusammenspiel von Präsenz- und Distanzunterricht gibt es weiterhin keinen Anlass, von den Anforderungen der Kernlehrpläne und den Bildungsstandards der KMK abzuweichen. Wir haben ein besonderes Augenmerk auf die Schüler, die im kommenden Jahr ihren Abschluss machen. Die Abiturienten des Jahres 2021 erhalten neun Tage mehr Vorbereitungszeit und die Aufgabenauswahl bei den Abiturklausuren soll erweitert werden, damit die Schüler auf zum tatsächlich erteilten Unterricht passende Aufgaben zugreifen können.
Eine Option, um die Lage zu entspannen, wäre es, den Schulbeginn weiter zu entzerren. Wie sehen Sie das?
Sehr positiv. Wir planen, den Unterrichtsbeginn auszuweiten von jetzt 7.30 Uhr bis 8.30 Uhr auf 9 Uhr, damit die Schulträger größeren Spielraum haben. Wichtig ist, dass sich die Schulen und Schulträger vor Ort eng abstimmen.
Von der Opposition kommt der Vorschlag, geteilten Unterricht durch Nutzung von Pfarrsälen oder Vereinsheimen zu ermöglichen.
Ich habe dazu intensive Gespräche mit Verbänden und Schulen geführt. Schulleitungen haben sehr deutlich ihr Unverständnis darüber zum Ausdruck gebracht und erklärt, dass dies kein praktikables Modell ist. Daher wird das Thema nicht weiter verfolgt.
Was halten Sie von dem Vorschlag, angesichts der angespannten Personalsituation in den Schulen Lehramtsstudenten einzubinden - etwa für die Hausaufgabenbetreuung oder zur Unterstützung im Unterricht?
Wir haben ein ganzes Maßnahmenpaket zur Lehrergewinnung aufgelegt, um pandemiebedingte Ausfälle aufzufangen. Zur Sicherung des Präsenzunterrichts haben wir zum Schuljahresbeginn die Möglichkeit für zusätzliche 400 Einstellungen geschaffen. Außerdem können Lehramtsanwärter in diesem Schuljahr freiwillig mehr eigenständigen Unterricht erteilen. Wir wissen mittlerweile, dass diese Möglichkeiten intensiv genutzt werden. Für die Umstellung von G8 auf G9 brauchen wir bis 2026/27 mehrere Tausend zusätzliche Lehrer. Aufgrund der Pandemie haben wir einen Teil dieser Stellen vorgezogen. Allein in diesem Jahr haben wir in einer ersten Tranche 800 zusätzliche Stellen geschaffen.
Im Vergleich zum Lockdown im März gibt es an vielen Schulen nun deutlich mehr Laptops und Tablets. Aber die machen ja noch keinen digitalen Unterricht. Was tut das Land NRW, um die Lehrer didaktisch auf die digitale Unterrichtszukunft vorzubereiten?
Wir haben in einer Vielzahl von Online-Seminaren unsere Lehrerinnen und Lehrer für die Verknüpfung von Distanz- und Präsenzunterricht geschult. Teilweise gab es Onlineseminare mit bis zu 500 Teilnehmern. Das Interesse ist nach wie vor da und wir werden weitere Fortbildungsangebote machen.
Warum müssen Schüler in NRW für zwei Wochen in Quarantäne und können sich nicht wie Erwachsene testen lassen, um frühzeitig wieder in den Unterricht zu können?
Das wäre in der Tat als Schulministerin mein größter Wunsch, dass es uns gelingt, mit Tests dafür zu sorgen, dass Schüler schnellstmöglich wieder in den Unterricht kommen. Das ist aber vor allem auch eine Frage der Test- und Auswertungskapazitäten, die zwar ausgebaut werden aber dennoch endlich sind. Wir haben ja entschieden, vorrangig vulnerable Gruppen zu testen. Und selbst für Schnelltests brauchen Sie medizinisches Personal, um sie durchzuführen.
Warum schafft es denn der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, für Bayern selbst symptomfreie Bürger mit scheinbar unbegrenzten Kapazitäten zu testen?
Das würde mich auch interessieren. Diese Frage muss Ihnen für Bayern Herr Ministerpräsident Söder beantworten.
Sie sind als Schulministerin derzeit in einer schwierigen Rolle und starker Kritik ausgesetzt. Fühlen Sie sich unberechtigterweise zum Sündenbock gemacht?
Ich glaube, dass man sich in Corona-Zeiten, die ja mit sehr viel Unsicherheit verbunden ist, solcher Kritik anders stellen muss als in normalen Zeiten. Ich kämpfe für die Kinder und Jugendlichen und ihr Recht auf Bildung. Dafür stecke ich auch gerne was ein.
Das Gespräch führten Carsten Fiedler, Alexandra Ringendahl und Gerhard Voogt