Der Kölner Psychologe Stephan Grünewald empfiehlt Deutschland 2024: Mehr Aufbruch wagen!
Zwischen Patriotismus und PartyotismusWarum sich Deutschland für Olympia bewerben sollte
Das vergangene Jahr war geprägt von einer eher passiv-resignativen Stimmung. Viele zogen sich angesichts der multiplen Krisen zunehmend in ihr privates Schneckenhaus zurück und schirmten sich ab von der bedrohlichen Außenwelt. Während die Zuversicht für das private Leben noch erstaunlich groß blieb, ist jeglicher Optimismus im Hinblick auf Politik und Gesellschaft geschwunden.
Die marode Infrastruktur, die Pisa-Studie, die Unpünktlichkeit der Bahn und selbst das schlechte Abschneiden der Fußballnationalmannschaften künden von einem besorgniserregenden Substanzverlust und unterminieren den Stolz auf das eigene Land. Die Folgen sind wachsendes Misstrauen gegenüber den Regierenden, aber auch gegenüber allen Andersdenkenden. Das Wir-Gefühl verflüchtigt sich und ist allenfalls noch in den persönlichen Silos zu finden. Solidarität ist zur „Silodarität“ geworden.
Das neue Jahr eröffnet die Chance, sich mehr Gemeinschaft vorzunehmen statt Selbstbezüglichkeit, aktive Verlebendigung statt passiver Resignation, Weltoffenheit statt Rückzug, ehrgeizige Ziele statt verzagter Enttäuschungs-Prophylaxe. Kurz: Mehr Aufbruch wagen. Die Europameisterschaften im Handball und Fußball im eigenen Land können zu aktivierenden, das Wir-Gefühl steigernden Großevents werden, indem sie Raum für gemeinsame Träume bieten und eine verbindende Schicksalsdramatik eröffnet.
Befreiende Wirkung des „Sommermärchens“ 20006
Bereits das „Sommermärchen“ der Fußball-WM 2006, an das zum Tod von Franz Beckenbauer gerade noch einmal breit erinnert wurde, hat die wahrhaftig märchenhafte Verwandlungskraft eines Sportevents im eigenen Land gezeigt. Im Vorfeld der WM hatten viele Menschen noch Zweifel, dass Deutschland ein solches Turnier gestemmt bekommt. Groß war vor allem die Sorge, dass die Deutschen zu patriotisch agieren und im nationalen Überschwang ihrer Gastgeberrolle nicht gerecht werden könnten.
Die befreiende Erfahrung damals war dann, dass die Deutschen stolz die scharz-rot-goldenen Fahnen hissen und schwenken konnten und dennoch weltweit als charmante Gastgeber erlebt wurden. Der gelungene Spagat zwischen Patriotismus und Partyotismus hat das Land in den Folgejahren unverkrampfter, offener und freundlicher gemacht.
Hochfrequenter Schicksalskitzel
Daher trete ich dafür ein, dass sich Deutschland um die Ausrichtung der Olympischen Spiele bewirbt. Obwohl Deutschland frühestens 2036 als Gastgeber in Frage kommt, böte die Bewerbung schon heute eine ambitionierte Zukunftsperspektive, die die derzeitige lähmende Endzeitstimmung konterkarieren könnte.
Eine Studie des „rheingold“-Instituts zur Faszination von Olympia zeigt, das die olympischen Ringe zwei zentrale Sehnsüchte symbolisieren: das Ringen um Erfolg und das Ringen um Einheit. Mit den Spielen verbindet sich eine verlebendigende Kraft, der sich Zuschauerinnen und Zuschauer in den Stadien oder vor dem Fernsehen nicht entziehen können: eine zugespitzte Dramatik, ein ständiges Mitfiebern, ein hochfrequenter Schicksalskitzel. Schweiß, Jubel und Tränen.
Leistungsschau und Fest der Einheit
Diese belebende Energie spürt man selbst in der Niederlage. Der sportliche Wettstreit der Nationen weckt im Erfolgsfall den Stolz auf die eigene Mannschaft und die Athletinnen und Athleten. Mit patriotischen Gefühlen verfolgen die Menschen die Platzierung im Medaillenspiegel.
Olympische Spiele sind zudem eine internationale Leistungsschau: tolle Architektur, neue Materialien, performende Athleten, eine Synthese aus Athletik und Ästhetik. Durch eine gelungene Ausrichtung kann vor allem das Gastgeberland neues Zutrauen in seine Leistungsfähigkeit gewinnen. Neben dem Erfolgsstreben ist Olympia auch das Fest der Einheit, ein Friedensevent, das alle Nationen und Menschen für einen Monat verbindet. Fair Play und ein spielerisches Miteinander prägen den Charakter der Spiele weit über die Stadien hinaus.
Olympisches Dorf als zentrales Symbol
Das zentrale Symbol für die unbeschwerte Gemeinschaft der großen und der kleinen Nationen ist das olympische Dorf. Hier kommen alle zusammen, hier haben alle den gleichen Standard. Hier herrscht Harmonie, und alle feiern hier zusammen.
Die Kritiker einer Olympiabewerbung wenden ein, die Spiele seien zu einem kommerziellen Spektakel verkommen, das unermessliche Mengen an Steuergeld und anderen Ressourcen vergeude und weder nachhaltig noch klimaneutral sei. Korruption, Doping, Leistung um jeden Preis und elitäre Abschottung hätten heute den ursprünglichen Charakter der Spiele pervertiert. Olympia öffne sich nur noch den Reichen. Prunk und Pracht würden ohne Rücksicht auf die Umwelt zur Schau gestellt.
Um diese berechtigen Einwände zu entkräften, muss eine deutsche Olympia-Bewerbung mit der Herausforderung verbunden sein, die Spiele nicht als seelenloses, perfektionistisches Spektakel zu inszenieren, sondern als beschwingtes und verbindendes Leistungsfest. Statt auf Gigantomanie zu setzen, sollte eher mit Charme und Demut der Geist einer weltweiten Gemeinschaft beschworen werden. Durch eine Synthese aus lustvoller Leidenschaft und fröhlicher Unbeschwertheit, aus nationaler Verbundenheit und nahbarer Weltoffenheit, wäre Olympia eine Chance, uns zu verlebendigen und im eigenen Land, ja in der ganzen Welt wieder mehr das einigende Moment zu stärken.