Partyvideo-DebatteGelten für Sanna Marin andere Regeln als für Boris Johnson?
Köln – Am Mittwochabend war es so weit: Sanna Marin war den Tränen nahe, als sie vor die Mikrofone und Kameras der finnischen Presse trat und erklärte, dass sie auch nur „ein Mensch“ sei. „Ich vermisse auch manchmal Freude, Licht und Spaß inmitten dieser dunklen Wolken“, sagte die Sozialdemokratin. „Ziemlich schwierig“ seien die letzten Tage gewesen.
Das stimmt wohl. Für Marin waren sie geprägt von gleich mehreren privaten Videos und Fotos, die in den sozialen Netzwerken und somit auch in der Presse gelandet waren. Erst kursierten muntere Partyvideos, dann haltlose Kokain-Gerüchte und als Marin gerade – freiwillig, aber auf Aufforderung hin – einen Drogentest absolviert hatte (Ergebnis: negativ), tauchte ein weiteres Partyfoto von Gästen einer Feier in ihrer Residenz auf.
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Marin entschuldigte sich. Und betonte jedes Mal, dass sie auch als Ministerpräsidentin eines Landes ein Recht auf Privatsphäre – und ja, sogar privaten Spaß habe. So richtig zugestehen wollte die finnische, aber auch Teile der europäischen Öffentlichkeit ihr das aber nicht. Und das liegt keineswegs daran, dass die Videos besonders schlimm wären.
Erinnern wir uns an Boris Johnson oder Donald Trump
Erinnern wir uns an die allermeist nur wenig staatstragenden Tanz- und Katastrophenvideos des noch amtierenden britischen Premier Boris Johnson. Zum Drogentest sollte der Brite deshalb nie. Auch nicht nach feuchtfröhlichen Gelagen in der Downing Street unter Missachtung der eigenen Corona-Maßnahmen. Alles halb so wild.
Denken wir an Donald Trump. Der ehemalige US-Präsident, der mit offener Frauenverachtung („Grab ´em by the Pussy“) loslegte und dann eine Porno-Darstellerin für ihr Schweigen bezahlte, musste dafür keine Konsequenzen tragen. Kein Drogentest. Dafür eine komplette Amtszeit im Weißen Haus.
Kontrollverlust durch ein bisschen Tanzen?
Noch am Dienstag mutmaßte die finnische Zeitung „Helsingin Sanomat“, Marin habe anscheinend „die Kontrolle verloren“. Kontrollverlust durch ein bisschen Tanzen, die Hürde scheint doch sehr niedrig.
Während die Videos und Fotos in den letzten Wochen entstanden, brachte Marin ihr Land übrigens in die Nato. Zuvor hatte die 36-Jährige, die bei Amtsantritt die jüngste Regierungschefin der Welt war, ihr Land erfolgreich durch die Corona-Pandemie geführt. Nach Kontrollverlust klingt all das nicht.
Sanna Marin ist jung - und eine Frau
Wenn es also weder an Marins Leistungen noch an den Tanzvideos selbst liegt, dass sie sich wie kein anderer internationaler Regierungschef für ihr Privatleben rechtfertigen muss, woran liegt es dann? Es bleiben nicht mehr viele Gründe übrig, außer: Sanna Marin ist jung. Und sie ist eine Frau.
Dass mit Marin anders verfahren wird als mit männlichen Staatenlenkern, lässt sich leider auch nicht durch die vielen Sympathiebekundungen, die die Finnin in den letzten Tagen aus aller Welt erreicht haben, wegwischen. Diese bittere Wahrheit müssen wir uns leider auch 2022 noch eingestehen – oder Johnson und Co. schleunigst auch zum Drogentest beordern und unverzüglich ihre Eignung in Frage stellen, sobald sie es wagen, mal wieder ein bisschen Spaß zu haben.