Korrupte Ärzte, lügende PatientenWie die Pflegemafia Millionen erbeutet
Köln – Sein Ton wechselte mitunter wie die Kontostände der Firmen, die er de facto beherrschte: Wenn es bei Chanan G. und seinen Pflegediensten nicht reibungslos lief, feuerte er schon einmal Mitarbeiter oder kürzte bei schwierigen Patienten die Schmiergelder. Mit Gesellschaften wie Ambulanta, Medicon oder Pflegeteam Alef scheffelten der Berliner und seine acht Komplizen Millionen mit falschen Leistungsabrechnungen bei den Sozialbehörden in Neuss und Düsseldorf und bei etlichen Krankenkassen. Damit das Geschäft funktionierte, bestach die Bande zudem Ärzte, Pflegekräfte und meist russischstämmige Patienten.
Gestern nun endete vor dem Landgericht Düsseldorf nach 32 Verhandlungstagen der spektakuläre Prozess gegen die Betrüger-Connection mit Schuldsprüchen. Geht es nach dem Vorsitzenden Richter Guido Noltze, soll der Bandenchef für sieben Jahre ins Gefängnis, die Strafen für die Komplizen variieren zwischen viereinhalb und zwei Jahren. „Alle haben sich, so gut es ging, die Taschen vollgestopft“, resümierte Noltze. Den Schaden durch den Leistungsbetrug bezifferte die 18. Große Strafkammer auf mindestens 4,7 Millionen Euro. Zudem sollen die Gauner über ein undurchsichtiges Finanzkarussell Steuern im großen Stil hinterzogen haben. Monatlich ging es um Beträge von bis zu 250.000 Euro.
Gewinne auf Schweizer Nummernkonto geschoben
Allein aus neugegründeten Gesellschaften wie der Medicon zog der 42-jährige Chanan G. in gut einem Jahr knapp eine halbe Million Euro. Verbucht wurden diese Zuwendungen unter der Rubrik „Offene Posten“. Im Herbst 2015 transferierte der Kopf der Bande seine Gewinne teils auf ein Schweizer Nummernkonto und erwarb zwei Kilogramm Gold. Das ausländische Vermögen soll nun der deutschen Staatskasse zufließen.
Der Fall gewährt einzigartige Einblicke in die Abläufe eines bundesweit operierenden Betrüger-Netzwerks, das laut Bundes- und Landeskriminalamt NRW 230 korrupte russisch-eurasische Pflegedienste umfasst. Den jährlichen Schaden schätzen die Sonderermittler auf etwa eine Milliarde Euro. Laut Abschlussbericht wurde das Netzwerk vorwiegend von Berlin aus gesteuert. Die Kriminalisten fürchten, dass die Betrugsmasche in einer stetig älter werdenden Gesellschaft zunimmt.
Angesichts der alarmierenden Entwicklung hatte die alte Bundesregierung den Kassen per Gesetzesnovelle bessere Kontrollmöglichkeiten ambulanter Pflegedienste zugebilligt. Bundesgesundheitsminister Herrmann Gröhe (CDU) plädierte dafür, mehr Schwerpunktstaatsanwaltschaften im Kampf gegen die osteuropäische Pflegemafia einzurichten.
Mitte November vergangenen Jahres zogen rund 120 Experten von Krankenkassen, Justiz und Strafverfolgern bei einem Treffen in Berlin ein negatives Fazit. Demnach laufen viele Kontrollen ins Leere, weil die Gegenseite geschickt Unterlagen und Zahlen frisiert. „Da aber viele Ressourcen bei Polizei und Justiz im Bereich islamistischer Terror eingesetzt sind, reichen die Kapazitäten nicht aus, um in vielen Bereichen der organisierten Wirtschaftskriminalität mit dem Gegner Schritt zu halten“, moniert Sebastian Fiedler, NRW-Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter.
Das Geschäftsmodell Pflegebetrug läuft offenkundig vor allem in Berlin und NRW: 60 Prozent der identifizierten Problemfirmen sitzen laut BKA/LKA-Expertise an der Spree oder an Rhein und Ruhr. Alleine in Köln laufen derzeit vier Verfahren. Die Hintermänner betätigen sich demnach auch auf den Feldern Schutzgelderpressung, Geldwäsche, Auftragsmord oder Rauschgifthandel.
„Ambulanta“ und „Pflegeteam Alef“ sollen Geld gewaschen haben
Auf die Spur der Düsseldorfer Bande gerieten die Ermittler Anfang 2014 durch Geldwäscheanzeigen von Banken. Berliner Drogenfahnder fanden bei einer Razzia gegen osteuropäische Gangster in einem Keller Mustervorlagen für fingierte Rechnungen. Zudem entdeckten sie Kontounterlagen der Düsseldorfer Pflegegesellschaften „Ambulanta“ und „Pflegeteam Alef“. Die Papiere legten den Verdacht nahe, dass alleine die rheinischen Unternehmen in einem Jahr 1,3 Millionen Euro über Briefkastenfirmen der Drogendealer gewaschen hatten. Wie sich später herausstellte, nutzten die Düsseldorfer Angeklagten die Mini GmbHs dazu, mittels Scheinrechnungen Schwarzgeld aus den Pflegediensten herauszuziehen.
Schmiergeld für Patienten
Mit den Beträgen schmierten sie auch Patienten, damit diese bei den Scheinrechnungen mitspielten: Monatlich wurden meist zwischen 75 bis 100 Euro gezahlt – mitunter kletterte die Summe bis auf 1000 Euro. Eine mitangeklagte Geschäftsführerin, die als Kronzeugin vor Gericht umfassend auspackte, bezifferte die monatlichen Vergütungen aus dem Schwarzgeldpool allein für ihre Patienten auf 20000 Euro. Gelegentlich wurde bei den Senioren auch mal unentgeltlich geputzt oder die Haare wurden frisiert. Im Gegenzug mussten sich viele Hilfsbedürftige selbst versorgen. Leistungen wie das tägliche An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen, Ganzwaschungen, das Verabreichen von Medikamenten oder Insulinspritzen und Blutdruckmessungen entfielen.
Pfleger ließen sich wochenlang nicht blicken
Mitarbeiter der betrügerischen Pflegedienste stellten den Patienten einen Medikamenten-Dispenser zur Verfügung, der eine Woche lang bis zur nächsten Visite reichen musste. Manche Senioren bekundeten in ihren Vernehmungen, dass ihre Pfleger den ganzen Monat über nicht aufgetaucht seien. Tatsächlich aber hätten die Betreuer täglich nach ihnen sehen müssen. Staatsanwältin Petra Szczeponik listete Tausende Betrugsfällen auf. So kassierte die Bande beispielsweise für die Behandlung einer Seniorin, die im fraglichen Zeitraum in den USA urlaubte.
Strafmildernd wertete das Gericht den Umstand, dass „die Begehung der Taten den Angeklagte durch mangelnde Kontrollen der Pflegeleistungen erleichtert“ worden sei. Mit einfachen Mitteln tricksten die Gauner das Gesundheitssystem aus: Oft ließen die Betreuer durch die Patienten Blankoleistungsverzeichnisse unterschreiben. Am Ende des Monats füllten die Pfleger dann im Büro die leeren Rubriken mit falschen Tätigkeitsnachweisen.
„Die Prüferin ist ein Miststück“
Brenzlig wurde es nur, wenn sich doch einmal Prüfer der Krankenkassen oder der Stadt bei Patienten angesagt hatten. Mitte Juli 2016 stellte eine städtische Kontrolleurin in Düsseldorf bei einer 93-jährigen Rentnerin fest, dass sie nicht täglich gewaschen worden war. Die Badewanne fand sie gänzlich trocken vor. Die Prüferin witterte Betrug. Bei den Pflegern liefen die Telefone heiß: Das sei schlecht, erregte sich eine der Helferinnen in einem abgehörten Gespräch: „Die Prüferin ist ein Miststück.“ Meist aber wurden die Senioren vorab instruiert, um die Kontrolleure zu täuschen: So empfahl eine Pflegedienstleiterin der Rentnerin Valentina K. (Name geändert), heftige Rückenschmerzen vorzutäuschen und einen Gehstock zu benutzen. So sollte die alte Frau dokumentieren, dass sie sich keine Kompressionstrümpfe überstreifen könne.
In Wahrheit aber benutzte Valentina K. gar keine Strümpfe. Weil ihre Exemplare noch sehr sauber seien, entgegnete die russischstämmige Frau am Telefon, wolle sie diese vor dem Kontrollbesuch noch ein wenig verschmutzen. Die Pflegedienstleiterin reagierte beruhigt. Falls noch Fragen auftauchen sollten, könne Frau K. gerne noch im Büro anrufen. „Welche Fragen?“, konterte ihre Gesprächspartnerin, „ich werde morgen schauspielern.“
Schwarzgeld für korrupte Ärzte
Besonders teuer wurde es für die Düsseldorfer Pflegemafia an jedem Quartalsbeginn des Jahres: Etwa 65.000 Euro Schwarzgeld musste die Bande allein im Juli 2016 für korrupte Ärzte berappen: Die Mediziner lieferten auf Wunsch neue Verordnungen für die Patienten. Mitunter ging es um Arzneien oder sonstige Pflegeleistungen, die überflüssig waren. Zudem sorgten die Mediziner für neue Kunden. In einem abgehörten Telefonat diente ein Doktor der Mitinhaberin einer russischen Pflegefirma eine ältere Dame an.
Die 82-jährige Frau sei allerdings keine Russin, bemerkte er einschränkend. Das könne ein Problem werden, entgegnete die Geschäftsführerin. Mangels russischer Sprachkenntnisse würde die alte Dame „das besondere System“ ja nicht verstehen. Nein, nein, wiegelte der Arzt ab, da müsse sie sich überhaupt keine Sorgen machen. Er glaube schon, dass die Patientin verstanden habe. Lachend fügte er hinzu: „Na ja, ich musste sie ja ein wenig vorbereiten“.
Ermittlungen gegen Mediziner laufen
Staatsanwältin Szczeponik ermittelt nach eigenen Angaben immer noch gegen einige Mediziner. Eine mitangeklagte Geschäftsführerin hatte ihr eine Liste mit 15 Namen korrupter Ärzte aus dem Düsseldorfer Sprengel übergeben. Allerdings tun sich die Ermittler schwer mit schlüssigen Beweisen. „Wir stoßen auf eine Mauer des Schweigens“, bekennt Szczeponik. Vermutlich muss die Anklägerin weitere Nachforschungen bald einstellen.