Plötzlich scheint es, als liefen in Syrien die Filme rückwärts. Rebellen holen sich Aleppo zurück, Syriens Diktator Assad flieht nach Moskau. Der Angriff auf Aleppo hat die ganze Welt überrascht ‒ auch Wladimir Putin. Dem russischen Staatschef wachsen die von ihm selbst gestarteten Kriege und Krisen mittlerweile über den Kopf. Eine Analyse.
Rebellion in SyrienWladimir Putin hat die Lage nicht mehr im Griff
Eine „spezielle militärische Operation“ (SMO) sollte es sein, schneller und eleganter als Kriege vergangener Zeiten. Binnen weniger Tage sollte Wladimir Putins Armee, gestützt auf überlegene militärische Macht, in eine Millionenstadt vorstoßen und dort die politische Lage zum Kippen bringen.
Man schrieb den 24. Februar 2022, und es ging um den Angriff Russlands auf Kiew.
Überfall auf die Ukraine: Eine einzige militärische Peinlichkeit für Russland
Es folgte eine einzige militärische Peinlichkeit. Putins Offiziere mussten ihre für die Siegesparaden mitgebrachten gebügelten Gala-Uniformen hinten im Wagen lassen. Schon bei der Anfahrt rangen die Russen mit Kommunikationsproblemen in den eigenen Reihen, Treibstoffmangel und einer niedrigen Kampfmoral ‒ und dann stießen sie auch noch auf heftigen Widerstand in der Stadt. Bald kündeten groteske, mehr als 50 Kilometer lange Staus aus russischen Militärfahrzeugen nördlich von Kiew vom Scheitern der SMO.
Wer eine spezielle militärische Operation sucht, die den Namen verdient, bekommt sie jetzt in Syrien vorgeführt. Dort haben Rebellen tatsächlich binnen drei Tagen völlig überraschend den Vorstoß in eine Millionenmetropole geschafft: nach Aleppo, in die zweitgrößte Stadt des Landes.
Wie konnte das geschehen?
Die ganze Welt reibt sich jetzt die Augen: Wer ist da am Werk? Und wie konnte das geschehen unter der brutalen Herrschaft des von Russland unterstützten Diktators Baschar al-Assad?
Schon oft gab es in Syrien Allianzen von Aufständischen. Die jetzige aber, angeführt von der Islamistenorganisation Haiat Tahrir al-Scham (HTS), scheint politisch lockerer strukturiert und kompromissbereiter zu sein als die vorigen. Dies erhöhte in den vergangenen Monaten offenkundig ihre Anschlussfähigkeit gegenüber allen Gruppen im Land, die sich ‒ unabhängig von Glauben und Herkunft ‒ gegen Assad wenden wollen.Militärisch, vor allem bei Kommunikation und Kontrolle, geht die HTS-Allianz effizienter vor denn je. Dass sie Antipanzerwaffen ihrerseits auf ungepanzerten Fahrzeugen an die Front bringt, mag unvollkommen erscheinen, erwies sich aber wegen des hohen Tempos als effizient. Eindrucksvoll war, auch aus Sicht westlicher Experten, die gute Vorbereitung des Vorstoßes und dessen gelungene Geheimhaltung.Bereits in der Nacht zu Sonntag wurden, auch wenn noch nicht die gesamte Stadt unter Kontrolle der Rebellen war, schon mal Tausende politische Gefangene entlassen. Das verschob im laufenden Geschehen die Kräfteverhältnisse in Aleppo weiter zugunsten der Rebellen. Jubelnd sah man auf Videos auch auffallend viele junge Frauen aus Gefängnissen strömen.
Assad in Moskau: Erbärmlicher geht es nicht
Entscheidend aber war, dass die Rebellen in der Stadt Aleppo politisch offene Türen einliefen. Zahllose Uniformträger des Assad-Regimes sollen sich ihnen reihenweise kampflos ergeben haben.
Auch hier liegt ein Rückblick auf Kiew nahe ‒ und darauf, wie sich die Bilder unterscheiden.
Als russische Truppen gegen die Ukraine vorrückten, meldete sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am nächsten Morgen mit einem wackeligen Handyvideo aus Kiew bei seinen Landsleuten: „Wir sind hier.“ Assad indessen grüßt jetzt, da seine eigenen Untertanen ihn bedrängen, aus Moskau: Der Diktator sorgte erst mal für seine eigene Sicherheit. Erbärmlicher geht es nicht.
Was nun? Noch ist es zu früh für Prognosen aller Art. Die russische Luftwaffe, hört man, hat bereits wieder Einsatzbefehle bekommen, um die Rebellen in Aleppo unter Feuer zu nehmen. Aus der Luft allein wird die Sache aber nicht zu entscheiden sein. Wenn es am Boden an Leuten fehlt, die auf der Seite Assads kämpfen, wird es für den syrischen Diktator auf Dauer ebenso schwierig wie für Putin.
Es geht hier nicht um irgendein Land und auch nicht um irgendeine Stadt. Sollte Aleppo dauerhaft an die Aufständischen fallen, könnte dies einen Gezeitenwechsel für ganz Syrien markieren ‒ und vielleicht sogar darüber hinaus.
Frieden wäre für Putin gefährlich
In Aleppo legten russische Kampfbomber 2015 und 2016 ganze Stadtviertel in Schutt und Asche. Die Russen ließen vielfach noch die Trümmer von Kliniken und Einkaufszentren durch „Double-Tap-Attacken“ tanzen, um den Zivilisten klarzumachen, dass ihnen wirklich nur noch die Flucht bleibt. Putin schuf auf diese Weise das größte Flüchtlingsdrama seit dem Zweiten Weltkrieg ‒ in der Absicht, die EU zu destabilisieren und quer durch den Westen Fremdenhass zu schüren.
Es mag wie ein Tagtraum klingen. Aber schon die bloße Vorstellung, in Syrien könnten die Filme jetzt plötzlich rückwärts laufen, ist faszinierend. Was, wenn Aleppo zu einem Ort neuer Hoffnung wird? Am Ende könnte der Sturz des Diktators stehen ‒ und die massenhafte Rückkehr syrischer Familien in ein sicheres Land, in dem sie künftig nach eigenen Vorstellungen leben können und in Ruhe gelassen werden.
Eine solche Vision freilich stünde quer zu den Machtinteressen Putins: In der von Russland dominierten Welt darf er so etwas nicht einreißen lassen, ansonsten geriete er selbst in Gefahr. Putin, längst gefangen in seiner eigenen Logik, kann immer nur eine einzige Antwort geben: noch mehr Krieg, noch mehr Bomben, noch mehr Rüstung.
In der Ukraine gerät Russland derzeit bereits an die Grenzen dessen, was es militärisch leisten kann. Moskaus Verbündeter Iran wird von Israel auf neue Art bedroht und scheint bereits wieder den einen oder anderen Fühler nach Westen auszustrecken. Die vom Iran unterstützten Terrorgruppen Hamas und Hisbollah wurden binnen kurzer Zeit dezimiert wie nie. Und jetzt tanzt den Russen auch noch eine neue Rebellenallianz in Syrien auf der Nase herum. Zu einem Bild geopolitischen Machtgewinns addiert sich dies alles nicht.
In Wahrheit treibt Putin sein Land in Richtung eines für Russland selbst gefährlichen Zustands, für den Militärs und Historiker seit Langem einen passenden Begriff kennen: imperiale Überdehnung.