Thorsten Latzel, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, spricht über Olympia und Versäumnisse bei der Aufklärung von Missbrauch.
Rheinischer Präses„Wir können als Kirche vom Sport lernen“
Präses Latzel, Sie sind „Sportbeauftragter“ des Rats der EKD. Wozu braucht die evangelische Kirche ein solches Amt?
Sport trainiert den Körper, Glaube trainiert die Seele. Da gibt es viele Gemeinsamkeiten, und wir können als Kirche vom Sport so manches lernen. Dafür setze ich mich gerne in meinem Ehrenamt ein.
Was gibt es für die Kirche zu lernen?
Sportler oder Sportlerin bist du nicht auf dem Sofa, sondern auf dem Platz oder auf der Laufstrecke. Gleiches gilt für den gläubigen Menschen: Glaube braucht Übung, eine Lebenspraxis. Sport und Religion vermitteln zudem gemeinsame Werte wie Teamgeist, Fairplay, Zusammenhalt. Wesentliche Integrationsleistungen für die Gesellschaft werden im Sport und in Kirchengemeinden erbracht.
Spüren Sie einen Phantomschmerz – zum Beispiel im Stadion, wo der Fußball als Ersatzreligion zelebriert wird?
Im Stadion kann man ein urmenschliches Bedürfnis nach „Liturgie“ wahrnehmen: nach Inszenierung, einer Rhythmisierung des Lebens. Aber bei allen Parallelen gibt es auch klare Unterschiede und Ambivalenzen: Ausgrenzung, Gewalt gegen Fans anderer Vereine. Oder einen manchmal unmenschlichen Leistungsdruck. Hier ist die Sportseelsorge Anlaufstelle und Dialogpartnerin für Athletinnen und Athleten. Bei Olympia in Paris war vielen das sehr wichtig.
Als die deutsche Kugelstoßerin Yemisi Ogunleye nach ihrem Olympiasieg die Bibel zitierte und von ihrem Vertrauen auf Gott sprach – war das für Sie ein goldener Moment?
Ich fand Yemisi Ogunleyes Reaktion hoch berührend und authentisch: Wovon ihr Herz voll war, floss ihr Mund über. Bis hin dazu, dass sie unter den Augen und Ohren der ganzen Welt ein Gospel angestimmt hat. Ich wünschte, mehr Christinnen und Christen hätten den Mut, im Alltag von ihrem Glauben zu sprechen. Gesang hat bei uns in der evangelischen Kirche mit dem protestantischen Choral ja sogar eine große Tradition. Bei uns hat jeder etwas zu sagen und zu singen.
Was würden Sie denn der US-Kugelstoßerin Jaida Ross sagen, die in Paris mit der „Blechmedaille“ auf Platz vier landete? Hatte die Jesus weniger an ihrer Seite?
Wir glauben nicht an einen „Erfolgsgott“. Gott trägt uns in den Höhen und in den Tiefen des Lebens, bei Siegen ebenso wie bei Niederlagen. Er versetzt uns in die Lage, das Unsere zu tun und bei allem anderen darauf zu vertrauen, dass er es gut machen wird. Wenn wir das glauben, kommt es nicht mehr so sehr darauf an, ob oder wo wir auf dem Siegertreppchen landen.
Der katholische „Sportbischof“ Stefan Oster aus Passau hat sich nach der Eröffnungsfeier von Paris an einer Szene gestoßen, die er als Verspottung des von Leonardo da Vinci gemalten Abendmahls ansah. Teilen Sie die Kritik Ihres Kollegen?
Es gibt nichts Inklusiveres als das Abendmahl. Christus ist Gastgeber, wir alle die Eingeladenen. Wenn also, wie in der besagten Szene in Paris, queere Menschen am Tisch sitzen, ist das eine Selbstverständlichkeit. Ob die Szene überhaupt auf Da Vincis Abendmahl anspielen sollte, wurde dann ja zudem strittig diskutiert. Und die Verantwortlichen haben klargemacht, dass sie sich in keiner Weise über Religion lustig machen wollten. Mein Punkt ist noch ein anderer. Die Erfahrungen mit dem Laizismus in Frankreich zeigen: Es ist nicht gut, Religion aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Die Eröffnungsfeier hat sie spielerisch mit hineingenommen.
Ein nackter Gott Dionysos …
… wäre jetzt nicht so meine Form. Aber das ist künstlerische Freiheit. Und was überhaupt nicht geht, sind die Anfeindungen und Angriffe, die Regisseur und Darstellende im Anschluss erfuhren.
Nach und nach wird auch im Sport der sexuelle Missbrauch zum Thema. Wie ist da aus Ihrer Sicht der Stand?
Als Kirchenvertreter schicke ich voran: Wir müssen bei Aufarbeitung und Prävention als Erstes unsere eigenen Hausaufgaben machen. Von unserer Botschaft her und dem, wofür wir stehen, haben wir hier eine besondere Verantwortung. Aber es ist wichtig, dass wir uns als Gesellschaft insgesamt offen mit dem Thema Missbrauch und interpersonelle Gewalt auseinandersetzen – zum Schutz von Kindern, Jugendlichen, aber auch von Erwachsenen. Da passiert noch viel zu wenig: in den Sportverbänden, in den Schulen, im Kulturbetrieb. Das Thema muss heraus aus dem Tabu und in den großen Zusammenhang von Machtmissbrauch gestellt werden. Überall, wo es die Möglichkeit zum Machtmissbrauch gibt, findet auch Missbrauch statt. Und wo man denkt, „aber bei uns doch nicht!“, kann man sich sicher sein, dass es gerade dort passiert. Das haben wir als Kirche gelernt.
Je größer das Machtgefälle, desto akuter die Gefahr?
In der evangelischen Kirche sind wir intensiv an dem Thema dran, das ist eine dauerhafte Aufgabe. Aber auch im Sport oder im Kulturbetrieb gibt es starke Machtgefälle und damit Gelegenheitsstrukturen. Trainerinnen, Dirigenten, Regisseurinnen, Intendanten – was haben die für eine Macht! Die ganze #metoo-Bewegung ist Ausdruck dessen. In Sport kommt noch die physische Nähe dazu. Als evangelische Kirche sind wir sehr konsequent: Es gibt verpflichtende Schulungen für alle Mitarbeitenden, Präventionskonzepte, öffentliche Kommunikation, ständige Befassung aller Leitungsgremien. Ich hoffe, dass das Signalwirkung auch für andere Bereiche hat.
Und bei der Aufarbeitung?
Hier sind wir auf den verschiedenen Ebenen tätig. Als rheinische Kirche werden wir nach einer Einzelfallstudie in Moers proaktiv alle Heime und Internate in kirchlicher Trägerschaft anschauen, auch wenn uns keine konkreten Verdachtsfälle vorliegen. Für Köln und Düsseldorf planen wir regionale Fallstudien. Und wir wollen auch die Auswirkungen einer liberalen Sexualpädagogik erforschen. Es gibt viel Arbeit und Energie in die Aufarbeitung. Wir wissen aber auch: Wir werden den Betroffenen nie vollends „gerecht“ werden können. Missbrauch ist zerstörerisch, hinterlässt unauslöschliche Spuren im Leben von Menschen.
Hoch umstritten ist die Frage der Entschädigungen. Wie nervös sind Sie mit Blick etwa auf das laufende Verfahren am Landgericht Köln, wo eine katholische Betroffene mehr als 800.000 Euro Entschädigung vom Erzbistum Köln als haftender Institution verlangt?
Zunächst einmal: Das Gros der Zahlungen geht an Betroffene, deren Fälle nicht oder nicht mehr justiziabel wären. Wir erkennen aber das erfahrene Leid an – auch finanziell.
Bisher hat die rheinische Kirche an 35 Betroffene einen Gesamtbetrag von 540.000 Euro gezahlt.
Und zwar schon dann, wenn Missbrauchsvorwürfe plausibel dargelegt wurden. Denn wir versuchen, Betroffene vor einer Retraumatisierung zu bewahren und sie nicht alles wieder und wieder erzählen zu lassen. Dazu kommen 134 Fälle im rheinischen Gebiet der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, die in Heimkontexten passiert sind. Hier sind bisher insgesamt 2,05 Millionen Euro an Anerkennungsleistungen gezahlt worden.
Macht im Schnitt gut 15.000 Euro.
Die Fälle sind sehr unterschiedlich gelagert. Wir halten uns an bundesweit verabredete Standards. Es darf keinen Unterschied machen, in welchem Teil unseres Landes Missbrauch passiert ist. Grundlage für die ausgezahlten Beträge sind die Schmerzensgeldtabellen – also Regelungen aus dem außerkirchlichen Kontext. Sollten die Gerichte hier neue, höhere Standards setzen, werden wir uns nicht entziehen. Nervös, weil Sie das gefragt haben, bin ich deswegen nicht.
Bejahen Sie denn eine Amtshaftung der Kirche als Institution für die Missbrauchstaten ihrer Bediensteten?
Wir müssen uns hüten vor verallgemeinernden Aussagen. Die Verantwortung der Kirche wird in jedem einzelnen Fall zu prüfen sein. Deshalb ist es gut, dass es dafür jetzt die unabhängigen regionalen Aufarbeitungskommissionen gibt.
Mit denen die Kirche am Ende doch die Verfahrens- und Deutungshoheit über die Aufklärung des Missbrauchs behält. Und der Staat lässt sie freundlich gewähren.
Die Kommission ist ein Gremium, in dem wir mit am Tisch sitzen, aber keine Mehrheit haben. Die Richtlinien der Kommission sind zusammen mit Vertreterinnen und Vertretern der Betroffenen sowie mit der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Kerstin Claus, sorgsam vereinbart worden. Zudem haben wir von uns aus alle Fälle, die in die „Forum-Studie“ der EKD eingegangen sind, zunächst einem Strafrichter vorgelegt und dann noch einmal von Staatsanwälten und Staatsanwältinnen unabhängig auf institutionelles Versagen prüfen lassen. All das legen wir der Kommission vor. Und zur Politik: Wir werden von ihr sehr kritisch angefragt.
Aber doch auch immer wieder umarmt – als Systemstabilisierer?
In einer sich wandelnden Gesellschaft ändert sich unsere Stellung als Kirche. Wir sind nicht mehr die kulturgestützte Volkskirche der 1970er oder 1980er Jahre. Das ist auch in Ordnung in einem Einwanderungsland mit Menschen unterschiedlichen Glaubens und religiöser Prägung. Wir setzen uns aber von unserem Glauben selbstverständlich weiter für unsere Gesellschaft ein – für Frieden, Gerechtigkeit, die Armen, den Zusammenhalt, die Bewahrung der Schöpfung. Und wir sind vonseiten der Politik weiter sehr stark gefragt, auch wenn es um Fragen der ethischen Orientierung geht, etwa um Grenzfragen des menschlichen Lebens an seinem Anfang und an seinem Ende. Deutlich nehme ich eine Sorge der Politik wahr: Wenn die Kirchen schwächer werden, was trägt dann die Gesellschaft, was hält sie zusammen?
Sie lassen sich in der rheinischen Kirche den Klimaschutz angelegen sein, wollen bis 2035 alle kirchlichen Gebäude treibhausgasneutral unterhalten. Was halten Sie von den Protesten der Letzten Generation?
Ich teile das Anliegen, die Aktionen lehne ich ab. Sie sind kontraproduktiv, weil sie die Gesellschaft spalten und Menschen gefährden. Wir brauchen ein konsequenteres Umdenken, aber die Menschen müssen mitdenken und mitgehen. Das gelingt nur, wenn auch ihre legitimen Bedürfnisse nach Mobilität berücksichtigt und nicht ganze Bevölkerungsteile abgehängt werden. Die Transformation muss eine sozial-ökologische sein.
Der Punkt der Letzten Generation ist aber doch: Das geht alles zu langsam, deshalb müssen wir den Verantwortlichen Beine machen.
Provokante Zeichenhandlungen sind uns aus der biblischen Tradition ja nicht fremd. Und ich verstehe auch zivilen Ungehorsam, bei dem Menschen bereit sind, die Folgen ihres Handelns zu tragen. Viele Engagierte setzen hier viel ein. Aber wir brauchen positive Zeichen, Beispiele für gelingendes Umsteuern, die Hoffnung machen. Und wir müssen den Konsens über ein regelbasiertes Zusammenleben wahren. Fortgesetzter Rechtsbruch durch einzelne Gruppen führt nicht zum Schulterschluss, sondern vertieft die Spaltung.
In der Migrationspolitik begibt sich die Kirche mit dem Kirchenasyl doch selbst in Konflikte mit Recht und Gesetz.
Widerspruch! Zunächst: Wir stehen klar für eine verantwortungsvolle Migrationspolitik, in der wir uns an unsere eigenen Werte und an unser Recht halten. Wir brauchen einen besseren Schutz unserer Gesellschaft vor Attentätern und islamistischer Gewalt wie in Solingen. Es gibt keine Rechtfertigung für solchen menschenverachtenden Hass und den Missbrauch des Asyls. Zugleich dürfen wir unsere offene Gesellschaft davon nicht zerstören lassen, unsere Werte, unser Recht wie das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl, die Genfer Flüchtlingskonvention. Für das Kirchenasyl gilt: Es ist kein rechtsfreier Raum. Wir haben klar geregelte Verfahren etabliert, die staatlichen Behörden sind immer informiert. Kirchenasyl bricht kein Recht, sondern schützt das Recht.
Inwiefern?
In einzelnen, nachgewiesenen Härtefällen, in denen geltendes Recht offensichtlich unzulänglich angewandt wurde, gibt das Kirchenasyl Gelegenheit zu einer nochmaligen Überprüfung. Das funktioniert gut. Für die Betroffenen ist es von existenzieller Bedeutung, weil es um deren Schutz vor politischer Verfolgung und Folter geht. Es ist aber auch ein Segen für den Rechtsstaat.