Die alten russischen Eliten trauern der Sowjetunion nach. Putin ist jedes Mittel recht: In diesen Regionen könnte er seinen Einfluss ausbauen.
Russlands TaktikWie es mit Putins Großmachtstreben weitergehen könnte
Der brutale Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 stellt den vorläufigen Höhepunkt in Russlands Streben nach alter Größe im Format der Sowjetunion dar. Begonnen hatte die schrittweise Rückgewinnung von Macht und Einfluss schon bald nach dem Zusammenbruch der UdSSR im Dezember 1991. Im Westen wurden einzelne Schritte zwar registriert, doch selten gedanklich zu einem Gesamtbild gefügt.
Wie der westliche Blick im Extremfall ausfallen konnte, beschreibt der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, in seinem gerade erschienenen Buch „Führung und Verantwortung“. Als es bei Angela Merkels Antrittsbesuch bei Donald Trump im März 2017 um die Ukraine ging, zog die Bundeskanzlerin eine Weltkarte hervor, auf der die frühere Ausdehnung der Sowjetunion eingezeichnet war. „Darüber war eine Folie mit Putins ‚Engagement‘ gelegt“, schreibt Heusgen. Es habe „frappierende Überlappungen“ gegeben.
Der US-Präsident studierte die Karte und tippte dann nach einer Weile „sichtbar stolz“ auf eine Stelle: Er habe Slowenien gefunden, das Heimatland seiner Frau, sagte Trump. „Das war's dann zu dem Thema“, schreibt Heusgen.
Putin verfolgt das Projekt „Revanche“
Seit seinem Machtantritt am 31. Dezember 1999 als Russlands Präsident, verfolgt der ehemalige KGB-Offizier Wladimir Putin das Projekt „Revanche“, mit dem er angebliche Demütigungen durch den Westen rächen will, die sein Land beim Zusammenbruch 1991 erlitten hat. Russland wieder Respekt auf der Weltbühne zu verschaffen, dafür kämpft Putin mit Worten, Waffen und brutaler Gewalt und nutzt ungelöste Territorialkonflikte auch in Asien und Afrika als machtpolitische Hebel.
Die nachfolgende Übersicht zeigt, wie die Einflussrückgewinnung begann.
Transnistrien
Schon 1991 spaltete sich in der Ex-Sowjetrepublik Moldau die prorussische Region Transnistrien ab und erklärte sich zu einem eigenen Staat, der bis heute international nicht anerkannt ist. Ab März 1992 versuchte Moldau, das Gebiet mit Waffengewalt zurückzuerobern, was jedoch nicht gelang. Unter Vermittlung Moskaus und der in Transnistrien stationierten 14. russischen Gardearmee kam es nach Gefechten mit Hunderten Toten und Verletzten im Juli 1992 zu einem Waffenstillstand. Noch heute sind rund 2000 russische Soldaten dort stationiert.
„Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt hat die russische Armee offiziell eingegriffen in einen innermoldauischen Konflikt“, sagt der Osteuropa-Experte Andreas Umland, Analyst beim Stockholm Centre for Eastern European Studies. Der Transnistrienkonflikt sei quasi der Beginn russischer Einmischung in innere Auseinandersetzungen ehemaliger Sowjetrepubliken gewesen.
Seit Beginn des Ukrainekrieges herrscht in der 3,2-Millionen-Einwohner-Republik Moldau große Sorge, dass Russland die Ukraine auch von Transnistrien aus angreifen könnte. „Ich denke schon, dass Russland plante, von Transnistrien aus bis zur ukrainischen Südküste im Raum Odessa vorzustoßen, um womöglich Moldau dabei gleich mit einzukassieren“, sagt Umland. Allerdings hätten die Russen derzeit in der Ukraine genug Sorgen, und zudem stelle sich in Transnistrien die Frage der Truppenaufrüstung, da es keine direkte Verbindung zu Russland gibt.
Berg-Karabach
Ebenfalls mit Ende der Sowjetunion kam es zwischen dem christlichen Armenien und dem muslimischen Aserbaidschan zu blutigen Kämpfen um die mehrheitlich von Armeniern bewohnte, aber zu Aserbaidschan gehörende Region Berg-Karabach. Im September 1991 erklärte die Republik Berg-Karabach, später Republik Arzach, ihre Selbständigkeit, die ebenfalls international nicht anerkannt ist. Bei den bis heute andauernden Auseinandersetzungen gab es Tausende Tote. 2020 unterzeichneten beide Seiten unter Vermittlung Moskaus eine Waffenruhe, deren Einhaltung von einer 2000 Mann starken russischen Friedenstruppe überwacht werden soll. „Russland hat sich dort immer als Vermittler präsentiert, aber den Konflikt eher angeheizt“, schätzt Umland ein.
Zuletzt blockierte Aserbaidschan seit Ende Dezember 2022 mit dem Latschin-Korridor die einzige Versorgungsstraße zwischen Armenien und Aserbaidschan. Die russischen Truppen griffen nicht ein. Russland galt lange als Schutzmacht Armeniens und besitzt dort auch eine eigene Militärbasis. Zudem ist das um demokratische Reformen bemühte Armenien wirtschaftlich und energiepolitisch stark von Moskau abhängig.
Aktuell will Russland es sich offenbar auch nicht mit Aserbaidschan verderben, das sehr eng mit der Türkei verbunden ist, mit der Moskau eine „Freundschaftsbeziehung“ pflegt.
Tschetschenien
Die Tschetschenienkriege 1992-1994 sowie 1999-2009 stellen ein Besonderheit dar, weil hier eine zwar autonome aber zur Russischen Föderation gehörende Republik nach dem Kollaps der UdSSR versuchte, ihre Unabhängigkeit zu erreichen. Russland griff hier militärisch in innere Angelegenheiten ein, was den Fall völkerrechtlich von Moldau und Berg-Karabach unterscheidet. „Aber schon in Tschetschenien konnte man die Brutalität, das systematische gezielte Vorgehen gegen Zivilisten, die terroristische Art der Kriegsführung beobachten, wie wir sie heute auch in der Ukraine sehen“, sagt Andreas Umland. Schätzungen zufolge kamen seit Beginn des ersten Tschetschenienkrieges insgesamt 170.000 Menschen ums Leben, die meisten von ihnen waren zivile Opfer.
In der Folge installierte der Kreml ein moskautreues Regime, das seit 2007 von Ramsan Kadyrow geführt wird und von schweren Menschenrechtsverletzungen, Korruption und Personenkult geprägt ist. Seit Oktober 2022 ist Kadyrow auch Generaloberst der russischen Streitkräfte und kämpft in der Ukraine mit eigenen Einheiten, die wegen ihre Brutalität gefürchtet sind.
Georgien
Ebenfalls seit dem Zerfall der UdSSR schwelte im Südkaukasus der Konflikt um die von Georgien abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien, die heute ebenfalls als nicht anerkannte selbstständige Republiken existieren. In der Nacht zum 8. August 2008 starteten georgische Einheiten eine Offensive zur Rückgewinnung der Kontrolle über die Gebiete. Russland kündigte „Gegenmaßnahmen“ an und griff daraufhin Georgien sowohl aus der Luft als auch über Land und See an. Der Krieg dauerte fünf Tage, in denen russische Truppen die georgische Armee zurückdrängten und bis in georgisches Kernland vorrückten. Bis zum Waffenstillstand am 12. August wurden etwa 850 Menschen getötet sowie zwischen 2500 und 3000 Menschen verwundet.
„Schon bei den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in Abchasien zu Beginn der 1990er Jahre waren irreguläre russische Truppen beteiligt“, sagt Andreas Umland. Und heute seien in beiden Regionen russische Streitkräfte stationiert. Umland vermutet, dass Russland seine Einflussrückgewinnung in Georgien jetzt womöglich „mit politischen Mitteln“ betreibt. Der Oligarch Bidzina Iwanischwili, dessen Partei „Georgischer Traum“ seit 2013 an der Macht ist, habe gute Verbindungen nach Moskau und versuche offenbar, das Land peu à peu vom prowestlichen Kurs abzubringen, was sowohl die EU- als auch die Nato-Mitgliedschaft betrifft. Umland: „Das ist zumindest in Russlands Interesse, wenn nicht gar von Moskau gefördert.“
Belarus
In Belarus ist nach Einschätzung des Osteuropa-Experten das geschehen, was Russland bis 2014 immer mit der Ukraine vorhatte. „In Minsk ist quasi ein prorussisches Regime an der Macht, das bereit ist, eine Art weiche Vereinigung zu vollziehen.“ Schon seit 1999 existiert dazu der sogenannte Unionsvertrag über die Herstellung eines gemeinsamen Unionsstaates. „Diktator Alexander Lukaschenko hat sich bisher darauf noch nicht voll eingelassen, weil das seinen eigenen völligen Machtverlust bedeuten würde“, sagt Umland.
Unter Experten gilt Belarus als Vasallenstaat Russlands, der wirtschaftlich, militärisch und politisch inzwischen völlig vom Kreml abhängig ist und den russischen Truppen im Ukrainekrieg als Aufmarschgebiet und Nachschubbasis dient. Nach Umlands Einschätzung würde Russland wohl eine Vereinigung auf dem Wege der Annexion einzelner Oblaste wie in der Ukraine bevorzugen. Dies wäre für Putin insofern vorteilhaft, als dass er dann nicht eine belarussische Teilrepublik im eigenen Land bändigen müsste, mit der sich die Menschen immer noch stark identifizieren und die womöglich wie eine tickende Zeitbombe wirkt. „Für die Identität der demokratischen Kräfte war der Aufstand von 2020 sehr wichtig“, sagt Umland, „wenn er auch politische letztlich erfolglos war“.
Ukraine
Als sich im Dezember 1991 die Sowjetunion auflöste, hat Russland die Unabhängigkeit der Ukraine – inklusive Krim – sofort anerkannt und dies im Zuge des Budapester Memorandums von 1994 erneut bekräftigt, als die Ukraine auf ihre Nuklearwaffen verzichtete und im Gegenzug von Russland, den USA und Großbritannien Sicherheitsgarantien für die Unantastbarkeit ihrer Grenzen erhielt. Das jedoch zählte für Putin nicht mehr, als er im Februar 2014 die Krim unter die Kontrolle bewaffneter Uniformierter ohne Hoheitsabzeichen bringen und das Parlament besetzen ließ, um ein Referendum zu inszenieren, in dessen Folge sich eine vorausbestimmte Mehrheit für den Anschluss an Russland aussprach.
Seit nunmehr knapp neun Jahren steht die Krim unter russischer Verwaltung. Nach ukrainischen Angaben sind seit 2014 zwischen 600.000 und 800.000 russische Staatsbürgerinnen und -bürger „illegal“ zugezogen. Im März 2014 befeuerten bewaffnete prorussische Separatisten in den ostukrainischen Oblasten Donezk und Luhansk einen Konflikt und riefen die nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk (DNR) und Luhansk (LNR) aus. Am 14. April erklärte die Ukraine den Beginn einer militärischen Anti-Terror-Operation gegen die Separatisten. Als der Konflikt im Mai weiter eskalierte, setzte Russland irreguläre Milizen, reguläre Truppen und konventionelle militärische Unterstützung ein, um den aus beiden Oblasten bestehenden gesamten Donbas zu erobern.
Der Ukraine gelang es, den weiteren Vormarsch der russischen Separatisten zu stoppen, die am 17. Juli 2014 über der Ostukraine ein ziviles Flugzeug abschossen. Alle 298 Passagiere an Bord der MH17 kamen ums Leben. Trotz zweier durch den Westen vermittelter Waffenstillstandsabkommen (Minsk I und II) dauerte der Konflikt im Donbass bis zum umfassenden russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 an und hatte bis dahin schon 14 000 Tote gefordert, zudem wurden 7000 bis 9000 Zivilisten verletzt. Am 30. September 2022 proklamierte Putin einseitig die Annexion der ukrainischen Oblaste Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson in die Russische Föderation.
Bis heute dauern die blutigen Kämpfe um diese Regionen mit Hunderttausenden Toten und Verletzten an. Aber Putin geht es nicht nur um die Ukraine und andere ehemalige Sowjetrepubliken, sondern „um nichts weniger als die Vorherrschaft in der Welt“, schreibt der Russlandkenner Michael Thumann in seinem „Spiegel“-Bestseller „Revanche“. Nach den Plänen eines tief gekränkten Machtmenschen, der „das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“, „sollten die USA gar keinen Platz mehr in einem schwachen und von Russland abhängigen Europa finden“. Das Zeitalter der Puntinschen Revanche geht in ein Finale, so Thumann, „dessen Dauer und Dramen schwer vorhersehbar sind.“