Tausende ukrainische Kinder werden einer Gehirnwäsche unterzogen, die ihre Identität ausradieren soll. Viele Eltern sind verzweifelt.
Kriegsverbrechen in Tausenden FällenWie ukrainische Kinder zu russischen Patrioten umerzogen werden
„Sechs Monate lang wusste ich nicht, wo sie war“, sagte Svitlana Popova. Russische Soldaten hatten ihre 15-jährige Tochter Alina mitgenommen, in einem Militärfahrzeug ging es über die Grenze nach Russland. Dort lebte Alina in einer neuen Familie, ging in eine neue Schule und lernte Russisch. Die ukrainische Armee würde sie töten, wenn sie nicht nach Russland mitkäme, hatte man Alina eingebläut. Sie glaubte den Worten und ging mit den Russen mit.
Was Popova und ihre Tochter auf einer Veranstaltung der ukrainischen Hilfsorganisation Save Ukraine schildern, ist typisch für die Deportation und Verschleppung ukrainischer Kinder aus den besetzten Gebieten nach Russland, sagt der Gründer der Organisation, Mykola Kuleba. „Der erste Weg sind Manipulation, Druck und Drohungen.“ Die russische Militärbesatzung schaffe absichtlich unmenschliche Bedingungen in den eroberten Gebieten, um Zivilisten zur Umsiedelung auf die Krim und nach Russland zu bewegen.
Russen locken Kinder mit Ferien auf der Krim
Zu Beginn der Besatzung hatten die Russen die Kinder noch mit großen Versprechungen angelockt. Eine Urlaubsreise auf die Krim, es war von Ferien und Erholung die Rede, ganze Schulklassen sind zusammen aufgebrochen. Save Ukraine glaubt, die Besatzer haben zuerst die Bereitschaft zur Zusammenarbeit und Befolgung der Anweisungen ausgetestet. Die Kinder erhielten neue Handys mit russischen SIM-Karten, die Besatzer kauften ihnen neue Kleidung und Schuhe, gingen mit ihnen in den Zoo. „Nachdem diese Kinder aus den Umerziehungslagern zurückgekehrt waren, wurden sie benutzt, um andere Kinder anzulocken und in die Lager zu bringen“, sagt Kuleba. Doch nun kehrten die Kinder nicht wieder zurück.
Viele Eltern hatten Zweifel, ihre Kinder zu den Russen auf die Krim fahren zu lassen. Aber ihnen blieb meist keine Wahl, so Kuleba. „Wenn sie überleben wollen, müssen sie die Anweisungen der Besatzer befolgen, jede Äußerung von Ungehorsam wird hart bestraft.“ Ihnen wurde auch mit dem Entzug des Sorgerechts und der Inobhutnahme der Kinder gedroht. Auf der Krim seien die Kinder doch auch viel sicherer, hieß es.
Zentausende Kinder aus der Ukraine vermisst
Mehr als 19.000 ukrainische Kinder werden inzwischen vermisst, teilte die Regierung in Kiew mit. Doch dabei handelt es sich nur um diejenigen, die namentlich bekannt sind. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) geht davon aus, dass seit Beginn des Krieges 2014 mehr als hunderttausend Kinder aus russisch besetzten Gebieten nach Russland verschleppt worden sein könnten. „Wir sprechen also wirklich von einem Massenphänomen“, sagte OSZE-Expertin Veronika Bilkova.
Die Lager auf der Krim und in Russland, zu denen die Kinder gebracht werden, dienen nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen allerdings weder der Erholung noch der Sicherheit der Kinder. „Der Hauptzweck dieser Lager besteht darin, dass die Kinder an zahlreichen Veranstaltungen zur Indoktrination und Gehirnwäsche teilnehmen“, sagt Mariia Sulialina von Human Rights House Crimea in Kiew. „Sie müssen sich die Propaganda der Russen anhören, die russische Hymne mitsingen und sehen den ganzen Tag russische Symbolik“, so Sulialina im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „In den Lagern wollen sie die Kinder zu Russen machen. Sie werden zu russischen Patrioten erzogen.“
Eines der größten Umerziehungslager ist Medvezhonok, etwa zehn Kilometer von Gelendschik entfernt, am Schwarzen Meer. Mehr als 300 Kinder aus der Ukraine sollen dort festgehalten werden, so ein Bericht des Yale Humanitarian Research Lab von der Universität Yale. Die lokalen Behörden haben Videos aus dem Lager veröffentlicht, auf denen Kinder die russische Nationalhymne singen und die russische Flagge tragen. In anderen Videos unterrichten Lehrer die Kinder über die nach russischer Sicht „richtige“ sowjetische Geschichte.
Die Ukraine soll als Nation ausgelöscht werden
Russlands erklärtes Ziel ist es, die Ukraine als Nation von der Landkarte zu radieren. Dass Moskau gezielt bei ukrainischen Kindern ansetzt, ist perfide, überrascht Beobachter aber nicht. „Sie versuchen, die ukrainische Identität aus unseren Kindern auszulöschen“, sagt Menschenrechtlerin Sulialina dem RND. „Wenn sie uns nicht physisch zerstören können, versuchen sie, uns psychisch zu zerstören.“ Sie befürchtet, dass Russland die ukrainischen Kinder manipuliert und indoktriniert, damit sie als vermeintliche Patrioten ihr Leben hingeben, um Russland im Krieg zu unterstützen. „Die größte Ehre, ein russischer Patriot zu sein, ist es, Russland zu schützen und für Russland zu sterben.“
Neu ist diese Methode nicht. Schon im Zweiten Weltkrieg haben sich Jugendliche freiwillig zum „patriotischen Kampf“ gemeldet, nachdem sie durch Kriegsspiele und Propaganda indoktriniert und militarisiert wurden. Sulialina beobachtet jetzt dasselbe in den russischen Umerziehungslagern: „In einigen Lagern auf der Krim haben wir dokumentiert, dass die Besatzer eine Art von militärischer Ausbildung an den Kinder vornehmen.“ Auch im Lager Medvezhonok haben Kinder offenbar eine Ausbildung im Umgang mit Schusswaffen erhalten.
Wer sich widersetzt, wird bestraft
Einige Kinder, die zurückgeholt werden konnten, berichten laut der Menschenrechtlerin, dass es nur Militärspielzeug im Camp gab und Bücher darüber, wie großartig Russland sei. Wer sich den Anweisungen widersetzt und nicht aufsteht, wenn die russische Flagge gehisst und die Hymne angestimmt wird, der werde bestraft. „Für die Kinder ist es ein riesiges Trauma und die Folgen werden in der Zukunft zu spüren sein“, fürchtet Sulialina.
In den Umerziehungslagern auf der Krim und in Russland werden die Kinder gezwungen, russische Geschichte, Sprache und Literatur zu lernen. Die 15-jährige Alina berichtet, sie sei auf der russischen Schule in die erste Klasse gesetzt worden, bekam russische Texte vorgelegt und musste jeden Tag Sätze aus Schulbüchern auf Russisch abschreiben. „Die Kinder werden einer intensiven Russifizierung unterzogen, die ihre ukrainische Identität zerstört – es ist eine Gehirnwäsche“, so Kuleba. Solche Schilderungen kennt auch Sulialina von Human Rights House Crimea, die die Schulbücher der deportieren Kinder analysiert hat. „In den russischen Schulbüchern, die verwendet werden, existiert die Ukraine nicht mehr.“
Russische Pässe für ukrainische Kinder
Als die 15-jährige Alina in Russland ankam, war dort schon alles vorbereitet. Eine Pflegefamilie wartete auf das Mädchen, sie erhielt neue Papiere und man nahm ihre Fingerabdrücke ab, damit ein russischer Pass angefertigt werden kann. „Dies ist ein etabliertes System in der Russischen Föderation zur Russifizierung ukrainischer Kinder“, so die Einschätzung der ukrainischen Juristin Myroslava Kharchenko. „Das ist einfach absurd und eindeutig illegal.“
Auch in diesen Tagen werden erneut Kinder in Umerziehungscamps auf die Krim und nach Russland gebracht. Weil die Russen eine Gegenoffensive im südlichen Saporischschja fürchten, haben sie die Evakuierung einiger Gebiete der Region angekündigt. Kinder und ältere Menschen sollen „vorübergehend“ von frontnahen Städten in die von Russland besetzte Großstadt Berdiansk gebracht werden.
Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen
Der ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin ermittelt inzwischen wegen möglicher Kriegsverbrechen in Tausenden Fällen, in denen ukrainische Kinder vom russischen Militär in Umerziehungslager gebracht wurden. Das Forschungsprojekt der Yale-Universität hat allein in Russland 43 dieser Umerziehungszentren ausfindig machen können – von Sibirien bis nach Magadan in Südrussland.
Die Hafenstadt Magadan liegt etwa dreimal näher an den USA als an der Grenze zur Ukraine. Die tatsächliche Zahl der Umerziehungslager dürfte aber noch viel größer sein. Der Internationale Strafgerichtshof hatte erst im März Haftbefehle gegen Wladimir Putin und seine Kinderbeauftragte Maria Lwowa-Belowa wegen ihrer Beteiligung an Kriegsverbrechen gegen Kinder erlassen. Russland erkennt den Strafgerichtshof nicht an.
Alinas Mutter Svitlana Popova fand ihre Tochter vor einiger Zeit in den sozialen Netzwerken wieder. Hilfsorganisationen unterstützten sie dabei, nach Russland zu reisen und ihre Tochter zurückzuholen. „Natürlich ist es sehr schwierig gewesen, über all diese Grenzen nach Russland zu gelangen“, sagt sie. Aber sie hatte Erfolg.
So wie Popova geht es den meisten Eltern, so Sulialina, die sich auf die Suche nach ihren Kindern machen. „Der einzige Weg, der im Moment funktioniert, ist, dass die Eltern mit allen Dokumenten selbst nach Russland ins Lager gehen und ihr Kind mitnehmen“, sagt sie. Eine Garantie, dass die Adoptivfamilien oder Umerziehungsheime die Kinder gehen lassen, gibt es nicht. Außerdem haben nicht alle Eltern Geld und Zeit, um nach Russland zu fahren und ihr Kind zu suchen.
Save Ukraine konnte bisher 95 Kinder zurückholen, insgesamt sind es nach offiziellen Angaben etwa 350 Kinder. „Wir haben keinen einzigen Fall gefunden, in dem jemand von der russischen Seite versucht hat, die Eltern oder Verwandten zu finden“, sagt NGO-Gründer Kuleba. Im Gegenteil: „Den Kindern wurde gesagt, dass sie niemals mehr in die Ukraine zurückkehren werden, dass ihre Eltern sie im Stich gelassen haben und dass sie in russischen Familien oder Waisenhäusern untergebracht werden.“
Zu diesem Schluss kommen auch die Experten der Yale-Universität. Sie konnten dokumentieren, dass Russland alles unternimmt, um die Rückkehr der Kinder in die Ukraine zu verhindern. Der Untersuchung zufolge handelt es sich um ein systematisches Vorgehen der russischen Regierung. Dutzende russische Beamte seien an der Deportation ukrainischer Kinder beteiligt. Die jüngsten Kinder seien gerade einmal vier Monate alt.
Weil nicht jedes nach Russland verschleppte Kind namentlich bekannt ist, geht Menschenrechtlerin Sulialina von einer doppelt oder gar dreimal so großen Zahl der betroffenen Kinder aus. „Ich bin mir sicher, dass die tatsächliche Zahl für uns alle ein Schock sein wird, so wie es ein Schock war, als wir Bucha befreit haben.“