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Sex zwischen GeschwisternStreit über verbotene Liebe

Lesezeit 5 Minuten

Soll der Staat Sex zwischen Geschwistern unter Strafe stellen? Die Meinungen hierüber gehen weit auseinander.

Berlin – Ganze Herrscherdynastien hätten nicht überlebt, hätte es damals nicht Inzest gegeben, wären nicht Geschwister miteinander verheiratet worden. Kleopatra heiratete ihre Brüder. Man fand die Geschwister-Ehe auch bei den Königshäusern der Inka, der Perser oder Phönizier. Die Habsburger vermählten Cousins und Cousinen. Und fast immer ging es um dynastischen Zwang. Nie um Liebe. Der Deutsche Ethikrat hat eine andere Form von Beziehungen vor Augen, wenn er empfiehlt, sexuellen Verkehr zwischen Geschwistern nicht mehr unter Strafe zu stellen. Gemeint ist einvernehmlicher Sex unter Erwachsenen. Das Strafrecht, so das Beratergremium, sei nicht der rechte Weg, um moralische Standards durchzusetzen und ein gesellschaftliches Tabu zu wahren.

Der Streit hatte sich vor Jahren an einem Fall aus Leipzig entzündet. Patrick S. hatte mit seiner leiblichen Schwester vier Kinder gezeugt. Wegen „Beischlafs zwischen Verwandten“ nach Paragraph 173 des Strafgesetzbuches musste er drei Jahre ins Gefängnis. Seine Klagen dagegen scheiterten. Schon damals – 2012 – hatten Juristen gefordert, das Inzest-Verbot im Strafrecht aufzuheben. Zumal dieses nur einen Teil der sexuellen Handlungen erfasse: den Geschlechtsverkehr. Andere Praktiken wie Oral- oder Analverkehr würden nicht verfolgt. Es gebe Wege, Betroffenen zu helfen, sagte zum Beispiel Hans-Jörg Albrecht, Strafrechtler aus Freiburg. Er schlug eine angemessene medizinisch-genetische Beratung vor, um auf Risiken des Verkehrs hinzuweisen. Denn Geschwister, die miteinander schlafen, laufen Gefahr, behinderte und anfällige Kinder zu zeugen – durch die mögliche Weitervererbung derselben fehlerhaften Gene und eine geringere Gen-Variabilität. Eine Genetikerin aus Tschechien hat 161 Kinder aus Inzest-Beziehungen untersucht. 44 Prozent litten unter geistigen Behinderungen, zwei Drittel sogar schwer.

„Falsche Signale“ vermeiden

Auch dies ist ein Grund, warum andere Juristen weiter ein absolutes Inzestverbot auch bei einvernehmlichem Sex unter Verwandten fordern: um die Gesundheit und die Familie zu schützen, das gesellschaftliche Tabu zu stärken, „falsche Signale“ zu vermeiden. Zumal hinter der sexuellen Beziehung zwischen Geschwistern selten eine wirklich selbstbewusste, erwachsene Sexualität steht, sagen Psychologen. Meist ist in den Familien etwas schiefgelaufen.

Aber wie oft kommen solche Fälle überhaupt vor? Der Strafrechtler Hans-Jörg Albrecht hat für sein Gutachten „Inzest und Strafrecht“ die Statistik analysiert und festgestellt, dass es bundesweit im Schnitt nicht einmal zehn Verurteilungen pro Jahr wegen „Beischlafs zwischen Verwandten“ gibt. Nur Einzelfälle davon dürften den Geschwister-Inzest betreffen, schreibt der Strafrechtler. Innerhalb von zehn Jahren hatte der Bundesgerichtshof nur je ein Mal mit Inzest unter Geschwistern und Halbgeschwistern zu tun. Beide Male handelte es sich um sexuellen Missbrauch von Kindern durch deutlich ältere Brüder.

Einvernehmlicher Sex zwischen volljährigen Geschwistern soll nach Ansicht des Deutschen Ethikrats nicht mehr unter Strafe gestellt werden. Eine Minderheit des Rates stellte sich gegen den Vorstoß.

Hintergrund der Stellungnahme ist eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im April 2012, mit der das deutsche Inzestverbot für Geschwister gebilligt worden war. Die Richter wiesen die Klage eines Mannes aus Leipzig ab, der wegen sexueller Beziehungen mit seiner Schwester verurteilt worden war. (dpa)

Dennoch scheinen sexuelle Erfahrungen zwischen Geschwistern nicht selten zu sein. Wie eine Studie in den 80er-Jahren ergab, machen diese etwa zehn Prozent aller Kinder. Meist allerdings geschieht es vor der Pubertät, in Form sogenannter sexueller Spiele, die früher auch Doktorspiele genannt wurden. Erst, wenn aus der beiderseitigen Neugier ein Drängen, gar Zwang und Gewalt von einer Seite wird, beginnen die Probleme. Weil aber auch hier die Beteiligten oft noch minderjährig sind, ist auch dies kein Fall für das Strafrecht, sondern eher für den Jugendpsychologen.

„Ich weiß, dass es ganz einfach angefangen hat, immer heimlich wenn unsere Eltern nicht da waren oder in unserer Spielkammer“, schreibt eine Frau im Internet. „Mal anfassen, aneinander reiben …. Ich fand das nicht schlimm, es war ja aber auch irgendwie interessant.“ Doch dann artete es immer mehr aus. Das Mädchen war acht, der Bruder zwölf, und er verführte seine Schwester. Heute leidet die Frau unter ihren damaligen Erlebnissen. Ihr Sexualleben ist gestört.

Geruch verhindert Inzest

Gibt es dann überhaupt einvernehmlichen Sex unter erwachsenen Geschwistern? Um diesen geht es ja bei der Empfehlung des Ethikrates. Hans-Jörg Albrecht spricht von verschwindend geringen Fällen. Meist seien es einmalige oder gelegentliche sexuelle Kontakte. Manche Forscher sprechen von biologischen Schranken, einer „natürlichen Inzestscheu“, die erst überwunden werden müsse, bevor Geschwister Sex haben. Instinktiv wüssten etwa Tiere, wer zu ihnen passe. Sie mieden Partner, deren Immunsystem dem eigenen zu sehr ähnele, weil gemeinsame Kinder eine zu schwache Immunabwehr haben könnten. Menschen wiederum wählten Sexualpartner über die Nase. Der Geruch vermittle ihnen unbewusst einen genetischen Code und verhindere den Inzest, sagen Forscher.

Andere bezweifeln eine natürliche Barriere. Ein 2010 veröffentlichte Studie von US-Forschern in Illinois ergab sogar, dass Menschen genetisch ähnliche Personen als besonders sexuell attraktiv einschätzten – vorausgesetzt, sie wüssten nicht, dass sie mit ihnen verwandt seien. Die Schlussfolgerung der Forscher lautet, dass das Inzesttabu eine gesellschaftliche Sanktion sei und nichts von vornherein biologisch Begründetes.

Auch der Strafrechtler Hans-Jörg Albrecht schreibt, dass sich Menschen durchaus sexuell von engen Verwandten angezogen fühlen könnten, soweit dies nicht kulturell oder gesellschaftlich unterbunden werde. Er verweist auf die in vielen Regionen verbreitete Praxis von Eheschließungen unter Blutsverwandten, etwa in der Türkei, in Nordafrika, dem Vorderen und Mittleren Orient.

Bleibt der Schutz der Gesundheit möglicher Kinder, die aus dem Geschwister-Inzest entstehen könnten. Aber auch dieser ist nach Meinung des Ethikrats und vieler Juristen kein strafrechtliches Thema. Der Strafverteidiger Udo Vetter schrieb auf seinem mit dem Grimmepreis geehrten Law Blog: Das Risiko sei „auch nicht dramatisch höher, als wenn Frauen über 40 schwanger werden. Oder wenn Behinderte miteinander Kinder zeugen.“ Wenn es um mehr als Moral ginge, dann müsste auch diesen Bevölkerungsgruppen der Geschlechtsverkehr verboten werden – „auf diesen Gedanken kommt aber zum Glück niemand“.