Forderungen nach einer Absage des Besuchs des türkischen Präsidenten Erdogan angesichts seiner Äußerungen zum Gaza-Krieg sind verständlich. Dennoch ist es richtig, dass Bundeskanzler Scholz Erdogan heute empfängt – die Türkei ist zu bedeutend, um nicht mit ihm zu sprechen. Wichtig ist aber auch, was Scholz dem Besucher nicht durchgehen lassen darf.
Kommentar zum StaatsbesuchDie Kritik an Erdogan ist richtig – doch der Dialog zu wichtig
Mit seinen kruden Angriffen auf Israel und seinen Lobpreisungen der Terrororganisation Hamas hat sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht zum ersten Mal Antisemitismusvorwürfe eingehandelt. Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson, insofern sind Stimmen nachvollziehbar, die eine Absage seines Besuchs gefordert haben. Trotzdem ist es richtig, dass Präsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Erdogan empfangen. Für Europa, ganz besonders aber für Deutschland ist die Türkei zu wichtig, um nicht das Gespräch mit ihm zu suchen.
Die Türkei bleibt auf vielen Ebenen ein schwieriger, manchmal frustrierender, oftmals aber unverzichtbarer Partner. Das gilt etwa beim Thema Migration, wo Deutschland auf eine Wiederbelebung des Flüchtlingspakts der EU mit Ankara hinarbeiten muss. Das gilt auch bei der Nato, wo Erdogan mit der Blockadehaltung zum Beitritt Schwedens ein weiteres Mal gezeigt hat, wie viel Macht er in dem Bündnis hat. Und das gilt ebenso für den Ukraine-Krieg, wo Erdogan gemeinsam mit den Vereinten Nationen durch Vermittlung des Getreideabkommens der einzige diplomatische Erfolg seit dem russischen Überfall gelungen ist.
Scholz muss bei Hamas-Verklärung in scharfer Form Paroli bieten
Wenn Erdogans Arbeitsbesuch dazu beiträgt, das bilaterale Verhältnis zu verbessern, ist beiden Seiten gedient. Krisen zwischen der Türkei und Deutschland haben immer auch einen negativen Effekt auf die Gesellschaft hierzulande, schon allein deswegen, weil in der Bundesrepublik rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln leben. Deutschland wiederum ist wichtigster Handelspartner und einer der größten ausländischen Investoren in der Türkei. Auch deshalb sucht Erdogan bei all seinen Provokationen der vergangenen Jahre – man erinnere sich an die unsäglichen Nazi-Vergleiche – dann doch immer wieder die Aussöhnung mit Deutschland.
Natürlich kann Erdogan bei seinem Deutschland-Besuch Kritik an der israelischen Regierung und auch am Westen üben. Der Bundeskanzler darf aber nicht zulassen, dass er Berlin als internationale Bühne dafür nutzt, die Hamas – wie nach den Terrorangriffen vom 7. Oktober geschehen – als Befreiungsorganisation zu verklären. Wenn der türkische Gast sich entsprechend äußert, muss Scholz ihm in scharfer Form Paroli bieten, auch wenn ein offener Schlagabtausch den ersten Deutschland-Besuch Erdogans seit fast vier Jahren überschatten würde.
Rechtsstaatlichkeit der Türkei ist eines EU-Beitrittskandidaten unwürdig
Klare Worte sollte Scholz überdies zur Lage in der Türkei finden, wo unter Erdogan der Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit voranschreitet. Dass politische Gefangene wie der Mäzen und Menschenrechtler Osman Kavala weiterhin in Haft sitzen, ist für ein Land, das offiziell immer noch EU-Beitrittskandidat ist, ein Skandal. Erdogan selbst hat im Sommer eine Wiederbelebung des EU-Beitrittsprozesses gefordert, der seit Jahren auf Eis liegt. So unwahrscheinlich eine Mitgliedschaft der Türkei aus heutiger Sicht ist: Scholz sollte Erdogan beim Wort nehmen – und ihn daran erinnern, welche Bedingungen die Türkei auf dem Weg zu einem Beitritt zu erfüllen hätte.
Längst überfällig ist schließlich eine Türkei-Strategie der Bundesregierung. Erdogan ist seit mehr als 20 Jahren an der Macht, und der Umgang mit ihm ist oftmals durch überraschende Rat- und Planlosigkeit geprägt. Ins bundespolitische Bewusstsein rückt die Türkei vor allem, wenn es im Verhältnis zu Deutschland und Europa wieder einmal kriselt. Eine solche Türkei-Strategie könnte auch dazu dienen, die Integration der türkischstämmigen Menschen in Deutschland voranzutreiben – von denen einige immer noch eher in Erdogan als in Steinmeier ihren Präsidenten sehen.