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Streit der GerichteDeutschland unter Anklage

Lesezeit 4 Minuten

Das Bundesverfassungsgericht hält die Kunstfreiheit hoch.

Die spektakuläre Entscheidung der EU-Kommission aus der vorigen Woche, wegen des Karlsruher EZB-Urteils vom 5. Mai 2020 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einzuleiten, hat den Konflikt zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) um die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) auf die europäische Bühne zurückgeholt.

Zur Erinnerung: Seit 2015 beschließt die EZB kontinuierlich den milliardenschweren Ankauf von Staatsanleihen. Sie verfolgt damit das Ziel, die Preisstabilität im Euroraum zu sichern und die Währungspolitik der Europäischen Union zu unterstützen. Karlsruhe hat diese Beschlüsse in seinem Urteil vom 5. Mai 2020 für „kompetenzwidrig“ erklärt, weil die EZB weder geprüft noch dargelegt habe, dass die von ihr beschlossenen Maßnahmen verhältnismäßig seien. Diesem Urteil stehe nicht entgegen, dass der EuGH 2018 die Unbedenklichkeit der EZB-Beschlüsse festgestellt habe. Dieses Urteil sei im Hinblick auf die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der EZB-Beschlüsse „objektiv willkürlich“ und „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“.

Michael Bertrams war Präsident des Verfassungsgerichtshofs NRW. 

Die EZB hat auf diese Kritik zügig reagiert und dem Bundestag ihre Unterlagen zur Verhältnismäßigkeitsprüfung zukommen lassen. Der Bundestag hat daraufhin festgestellt, die Darlegungen der EZB seien „nachvollziehbar“ und erfüllten die Vorgaben des Karlsruher Urteils. Das hat Karlsruhe mit Beschluss vom 29. April 2021 bestätigt.Was bedeutet vor diesem Hintergrund die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens der EU-Kommission gegen Deutschland? Nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der EU steht der Kommission ein solches Verfahren zur Verfügung, um Verstöße eines Mitgliedsstaats gegen EU-Recht geltend zu machen. Einen solchen Verstoß sieht die Kommission in dem EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020, welches sich Deutschland zurechnen lassen muss.

„Europa à la carte“

Nach Auffassung der Kommission haben die Karlsruher Richter „fundamentale Prinzipien des EU-Rechts“ verletzt, insbesondere die Vorrangigkeit des europäischen Rechts vor dem nationalen Recht sowie die alleinige Maßgeblichkeit der Rechtsprechung des EuGH in Fragen des europäischen Rechts. In dem EZB-Urteil des Verfassungsgerichts sieht die Kommission deshalb einen „gefährlichen Präzedenzfall“, der die „Einheitlichkeit des Unionsrechts bedrohen und den Weg zu einem Europa à la carte eröffnen könnte“.

Diesem grundsätzlichen Bedenken der Kommission stimme ich zu, nicht zuletzt mit Blick auf die von rechtsstaatlichen Grundsätzen zunehmend abweichende Rechtsentwicklung in Ungarn oder Polen. Was aber kann Deutschland tun, um den von der Kommission gerügten Verstoß des Bundesverfassungsgerichts gegen EU-Recht zu beheben? Deutschland ist ein Rechtsstaat, in dem sich Eingriffe von Parlament und Regierung in die Unabhängigkeit der Dritten Gewalt verbieten. Angesichts dessen scheiden von vornherein Maßnahmen aus, die auch nur im Entferntesten den Eindruck einer politischen Einflussnahme auf die Rechtsprechung des Gerichts erwecken könnten.

Appell oder Ergebenheitsadresse

In Betracht käme zwar ein Appell an die Karlsruher Richter, im Interesse Europas auf eine weitere Konfrontation mit dem EuGH zu verzichten und das Gespräch mit den europäischen Kolleginnen und Kollegen zu suchen. Denkbar wäre auch eine Erklärung gegenüber der Kommission, in künftigen Kollisionsfällen der Rechtsprechung des EuGH zu folgen. Meines Erachtens ist jedoch weder mit einem Appell noch mit einer Ergebenheitsadresse an Kommission und EuGH zu rechnen.

Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass Deutschland sein höchstes Gericht in das Vertragsverletzungsverfahren einbinden und um eine Stellungnahme zu dem Vorgehen der Kommission bitten wird.

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Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich diese Stellungnahme vorzustellen: Karlsruhe wird auf sein Urteil vom 5. Mai 2020 und die darin aufgestellten Grundsätze verweisen. Von daher kann Deutschland auf die Vorwürfe der Kommission lediglich mit einem Hinweis auf die Unabhängigkeit des Gerichts oder mit einem Verzicht auf jegliche Stellungnahme reagieren.

Drohende finanzielle Sanktion

Beides würde der Kommission den Weg öffnen für eine Klage gegen Deutschland auf Verhängung einer finanziellen Sanktion durch den EuGH. Dieser erhielte damit Gelegenheit, seine Zuständigkeit in Fragen des europäischen Rechts zu untermauern.

Wer ein geeintes Europa will und kein „Europa à la carte“, muss akzeptieren, was der EuGH schon früh festgestellt hat: dass die Rechtsordnung der EU „eigenständig“ und den Rechts- und Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten nicht untergeordnet ist. Zuständig für die Überwachung dieser eigenständigen Rechtsordnung ist nach europäischem Recht aber der EuGH und nicht das Bundesverfassungsgericht.