Etwa ein halbes Jahr nach den Anschlägen auf die Pipelines Nord Stream 1 und 2 sind neue Details bekannt geworden. Ein Überblick über die wichtigsten Erkenntnisse – und welche Fragen noch offen sind.
Täter, Boot, Ukraine-VerbindungenWas die neuen Erkenntnisse über die Nord-Stream-Anschläge verraten
Am Dienstag haben mehrere Medien über neue Erkenntnisse aus Geheimdienst- und Ermittlerkreisen zu den Anschlägen gegen die Erdgaspipelines Nord Stream 1 und 2 berichtet. Am 26. September 2022 wurden beide Röhren von Nord Stream 1 und eine der beiden Röhren von Nord Stream 2 durch Explosionen unterbrochen.
Es entstanden vier Lecks in 70 bis 80 Metern Tiefe in der Nähe der dänischen Ostseeinsel Bornholm und außerhalb der Hoheitsgewässer. Die Staatsanwaltschaft Schwedens war Ende 2022 zu dem Schluss gekommen, dass die Pipelinelecks durch Sabotage vorsätzlich beschädigt wurden.
Ein Überblick, was nach den neuen Enthüllungen bekannt ist – und was nicht.
Wie sollen die Anschläge auf die Nord-Stream-Pipelines abgelaufen sein?
Eine Gruppe von fünf Männern und einer Frau sollen eine Jacht angemietet und am 6. September in See gestochen sein, berichten ARD und „Zeit“. An Bord habe sich auch der Sprengstoff befunden, laut Ermittlern etwa 500 Kilogramm. Zwei Taucher und zwei Tauchassistenten hätten dann in 70 bis 80 Metern Tiefe den Sprengstoff an den Pipelines befestigt.
Dann sollen sie das Boot zurückgebracht haben, ohne es vorher zu reinigen. Ermittler haben offenbar Rückstände von Sprengstoff entdeckt. Die Bundesanwaltschaft bestätigte am Mittwoch, dass im Januar ein verdächtiges Schiff durchsucht wurde. Es bestehe der Verdacht, dass auf dem Schiff Sprengstoff transportiert wurde.
Unklar ist weiterhin, wie die Täter an den Sprengstoff gelangt sind, betont Sebastian Bruns, Experte für Maritime Sicherheit an der Universität Kiel. „Es ist nahezu unmöglich, Hunderte Kilo Sprengstoff zu kaufen, ohne dass die Behörden dies bemerken“, so Bruns im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Der US-Geheimdienst geht von einer proukrainischen Gruppe aus. Steckt also die ukrainische Regierung dahinter?
Die „New York Times“ berichtet unter Berufung auf US-Beamte, dass es sich bei den Tätern wahrscheinlich um eine proukrainische Gruppe handelt, „höchstwahrscheinlich ukrainische oder russische Staatsangehörige oder beide Nationalitäten“. Es gebe jedoch keine Beweise dafür, dass die ukrainische Regierung in die Anschläge involviert sei.
„Wir müssen deutlich unterscheiden, ob es eine ukrainische Gruppe war - also im ukrainischen Auftrag gewesen sein könnte - oder eine pro-ukrainische ohne Wissen der Regierung“, sagte Verteidigungsminister Pistorius. Die ukrainische Regierung hat eine Beteiligung an der Sabotage zurückgewiesen. Dass ukrainischen Spezialkräften so ein Einsatz zugetraut wird, sei „eine Art Kompliment“, sagte der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow.
Was ist genau über die Täter bekannt?
Laut Medienberichten bestand die Gruppe auf dem Boot aus einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einer Ärztin. Über die Nationalität ist nichts bekannt, da sie sehr gut gefälschte Reisepässe verwendet haben sollen. Sicherheitsexperten halten es aber für unwahrscheinlich, dass diese Personen allein operiert haben. „Die Tiefe der Pipelines, die notwendige Planung und die Menge an Sprengstoff deuten sehr darauf hin, dass eine staatliche Stelle in den Anschlag involviert ist“, so Experte Bruns.
Denkbar seien staatlich ausgebildete und trainierte Personen, die zum Beispiel in der Vergangenheit als Kampftaucher bei den Seestreitkräften gedient haben. Der US-Geheimdienst geht laut „New York Times“ davon aus, dass es sich um Gegner des russischen Präsidenten Wladimir Putins handelt. Wer die Operation geleitet und finanziert hat, bleibt unklar.
Was ist über das Boot bekannt?
Die Ermittler haben herausgefunden, dass die Jacht einer deutschen Charterfirma von einem Unternehmen mit Sitz in Polen angemietet wurde und in Rostock am 6. September in See gestochen sei. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Sprengstoff mit einem kleinen Boot zu den Pipelines gebracht wurde, da dies nicht getrackt werden kann“, erklärt Bruns. Ein größeres Schiff, wie zum Beispiel ein Kriegsschiff einer Marine, wäre laut dem Experten bemerkt worden.
Ihn überrascht es nicht, dass den Sicherheitsbehörden das Boot im September nicht aufgefallen war. „Wir haben weltweit das Problem, dass unser maritimes Lagebild viele Lücken aufweist“, so Bruns weiter. Das gelte selbst für die Ostsee, die im Vergleich zu anderen Gewässern sehr gut überwacht werde. „Wenn etwas nicht direkt vor der Küste, sondern in internationalen Gewässern passiert, wissen wir nur sehr wenig darüber.“ Außerdem gibt er zu bedenken, dass in Rostock und anderen Häfen täglich so viele kleine Boote ausliefen, dass eine kleine Jacht kaum auffalle.
Führen die Verbindungen wirklich in die Ukraine?
Diese Frage ist noch immer offen, denn die Nationalität der mutmaßlichen Täter ist weiterhin ungeklärt. Die fragliche Jacht soll zwar von einer polnischen Firma angemietet worden sein, die aber zwei ukrainischen Personen gehört. Sicherheitsexperten halte es für möglich, dass absichtlich eine falsche Spur gelegt worden sein könnte. Eine solche „False-Flag-Operation“ hält auch Verteidigungsminister Pistorius für denkbar. Im Verdacht steht seit längerer Zeit Russland, doch Generalbundesanwalt Peter Frank hatte zuletzt erklärt, dass dafür bislang keine Beweise gefunden wurden.
Welche weiteren Theorien gibt es?
Aus Russland heißt es, dass der Anschlag von Geheimdiensten der USA und Großbritannien verübt wurde. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharow, verwies am Mittwoch erneut auf Recherchen des US-Journalisten Seymour Hersh, der unter Berufung auf eine einzelne anonyme Quelle behauptet hatte, dass US-Marinetaucher für die Explosion verantwortlich sein sollen. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow beschuldigt ebenfalls die USA. Die neuen Berichte seien eine „gut koordinierte Medienkampagne“.
Was hat sich seit den Explosionen geändert?
Eine Menge, erklärt Sicherheitsexperte Bruns. Der Fokus der Sicherheitsbehörden auf die Unterwasserinfrastruktur sei heute viel größer. „Die Nato und das deutsche Marinekommando beschäftigen sich inzwischen intensiv mit dem Schutz von Pipelines und Kabeln unter Wasser.“ Außerdem gebe es eine stärkere Zusammenarbeit zwischen der Bundespolizei See und der Marine.
Ist eine Pipeline-Sabotage auch heute noch möglich?
Ein halbes Jahr nach den Anschlägen auf die Pipelines lautet die Antwort immer noch „ja“, so Bruns. „Ein vollständiger Schutz der Pipelines ist nicht möglich.“ Für einen lückenlosen Schutz seien unzählige Sensoren nötig, die Daten sammeln und die ausgewertet werden müssten. Weiterhin müssten auch Schiffe und Hubschrauber mit entsprechender Technik ausgerüsteter werden.