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Schule im U-BahnhofWie der Krieg die Kinder in Charkiw unter die Erde treibt

Lesezeit 7 Minuten
Eine Erzieherin hält die Hände von Kindern, während sie im Januar 2024 in Charkiw die Treppe zu einem unterirdischen Kindergarten in einer U-Bahn-Station hinuntergehen.

Januar 2024: Eine Erzieherin hält die Hände von Kindern, während sie in Charkiw die Treppe zu einem unterirdischen Kindergarten in einer U-Bahn-Station hinuntergehen.

Im Osten der Ukraine gibt es unterirdische Klassenräume und Kitas. Dort sind die Kinder sicher vor russischem Beschuss – doch unter der Erde gibt Probleme.

Diese Schule ist im wahrsten Sinne des Wortes bombensicher, und darauf kommt es im Krieg an. Hier, weit unter der Erde, gibt es weder frische Luft noch Sonnenschein, dafür bleiben die Kinder von Luftalarm und Explosionen verschont. „Draußen ist Krieg“, sagt Yulia (36), die nur ihren Vornamen nennt und gerade ihren sieben Jahre alten Sohn Nazar am Eingang der Schule abgeliefert hat. „Leider gibt es keine andere sichere Option in Charkiw, um zur Schule zu gehen. Ich bin erleichtert, dass er hier sein kann.“

Nazars Schule liegt in einer U-Bahnstation in der ostukrainischen Metropole Charkiw, 35 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Weil die russischen Truppen die zweitgrößte Stadt der Ukraine regelmäßig mit Drohnen und Raketen angreifen, hat Bürgermeister Ihor Terechow Klassenräume in U-Bahnhöfen einrichten lassen. „Die Russen haben unseren Kindern ihre Kindheit gestohlen“, sagt die Leiterin der Schulbehörde im Stadtteil Schewtschenko, Yulia Bashkirova (53). „Wir wollen ihnen zumindest ein sicheres Umfeld bieten.“

Gewöhnliche Schulen gibt es in Charkiw schon lange nicht mehr. Erst waren sie wegen der Covid-Epidemie dicht, kurz nach der Wiedereröffnung begann vor zwei Jahren der russische Angriffskrieg, weswegen sie wieder schließen mussten. Im vergangenen September haben Schulen in U-Bahnhöfen ihren Betrieb aufgenommen, fünf davon gibt es inzwischen in der Stadt, das Modell ist einzigartig in der Ukraine. Die meisten Schülerinnen und Schüler in Charkiw lernen zwar immer noch online, die Zahl derjenigen in den sogenannten Metro-Schulen steigt aber – von rund 1000 zu Beginn auf jetzt knapp 2200.

Ein Segen im Krieg: Die U-Bahnhöfe in Charkiw

Die U-Bahnhöfe sind bei ihrem Bau zu Sowjetzeiten auch als Bunker angelegt worden, was sich als Segen herausstellt – auch wenn damals der Feind im Westen verortet wurde und er jetzt aus dem Osten kommt. Vor dem Krieg haben rund 1,4 Millionen Menschen in Charkiw gelebt. Nach dem Einmarsch am 24. Februar 2022 haben nach Behördenangaben zweitweise 160.000 Zuflucht in den Metro-Stationen gesucht.

Russische Truppen standen wochenlang am Rande der Stadt und beschossen sie mit Artillerie. Auch Yulia, die ihren Sohn eben zur Schule gebracht hat, kennt diese U-Bahnstation noch gut, dort hat sie nach Kriegsbeginn mit ihrer Familie zwei Wochen lang Schutz gesucht. Bevor Yulia geht, sagt sie: „Wir sind des Krieges so müde.“

Als Schulen sind die Metro-Stationen allerdings nicht geplant gewesen. „Wir hatten keine Erfahrung damit, Schulen in U-Bahnhöfen einzurichten“, sagt Bashkirova. „Viele Menschen haben nicht gedacht, dass es überhaupt möglich ist.“ Inzwischen baue die Stadt nicht nur improvisierte, sondern sogar eine richtige Schule unter der Erde, weitere solche Projekte seien geplant. Das zeigt, dass hier niemand mit einem absehbaren Ende des Krieges rechnet.

Botschaft in der U-Bahn-Schule: „Ich wünsche mir Frieden“

Bashkirova bittet darum, aus Sicherheitsgründen den Namen des Bahnhofs nicht zu nennen, in dem sie an diesem Tag mit einigem Stolz ausländischen Reportern die Metro-Schule zeigt. Die Station liegt umgeben von Hochhäusern an einer großen Kreuzung, die Gegend wirkt an diesem grauen Wintertag besonders trist. Neben einem der Eingänge in den Untergrund hockt ein Mann in der Eiseskälte und verkauft Sonnenblumenkerne. Unten bettelt eine alte Frau um Geld.

Oleh Syniehubov (2.v.l), Leiter der regionalen Militärverwaltung von Charkiw, und Oksen Lisovyi (3.v.l), der ukrainische Minister für Bildung und Wissenschaft, besuchen eine Schule in Charkiw.

Oleh Syniehubov (2.v.l), Leiter der regionalen Militärverwaltung von Charkiw, und Oksen Lisovyi (3.v.l), der ukrainische Minister für Bildung und Wissenschaft, besuchen eine Schule in Charkiw.

Die Schule ist in einem Korridor untergebracht, der von der Metro-Station abgetrennt worden ist. Wände wurden eingezogen und Fenster eingebaut, das Belüftungssystem ist neu. Der Korridor ist rund 100 Meter lang und fünf Meter breit. Ein schmaler Gang führt durch diesen Schlauch, links davon gehen eine Garderobe, ein kleines Büro und die fünf Klassenzimmer ab. Rechts sind Fenster, durch die man etwas weiter unten den Bahnsteig sieht. Während des Unterrichts rumpeln Züge vorbei.

„Love“, steht in großen Lettern auf einer der Fensterscheiben. Auf einem roten Papierherz haben Schüler ihre Gedanken hinterlassen. „Ich wünsche mir Frieden“, hat jemand geschrieben. Unten auf dem Bahnsteig wirbt ein Plakat darum, sich der Dritten Sturmbrigade anzuschließen, die gerade noch in Awdijiwka gekämpft hat, bevor russische Truppen die Stadt nach blutigen Gefechten erobert haben. „Schreibe Deinen Namen in die Geschichtsbücher“, heißt es auf dem martialischen Poster.

Klassenräume mit Smartboards und Internet

Die Schule arbeitet im Schichtbetrieb: Die erste Gruppe Kinder kommt von 9 Uhr bis 11.35 Uhr, die zweite von 13 Uhr bis 15.45 Uhr. Um möglichst vielen den Besuch zu ermöglichen, wechselt der Unterricht zwischen online und offline – während die einen zu Hause lernen, können die anderen in der Schule sein. „Für die Kinder ist es sehr wichtig, persönlichen Kontakt zu ihren Mitschülern und Lehrern zu haben“, sagt Behördenchefin Bashkirova. Natürlich stelle der unterirdische Betrieb alle vor große Herausforderungen. „Aber wir haben alles unternommen, um den Unterricht so gut wie möglich zu organisieren.“

Mitte Februar in Charkiw: Elektriker entfernen verbrannte Drähte, um die Stromversorgung wiederherzustellen, nachdem eine russische Rakete in den Außenbezirken der Stadt eingeschlagen ist.

Mitte Februar in Charkiw: Elektriker entfernen verbrannte Drähte, um die Stromversorgung wiederherzustellen, nachdem eine russische Rakete in den Außenbezirken der Stadt eingeschlagen ist.

Die Klassenräume sind mit Smartboards und Internet ausgestattet, sie sind moderner als die meisten ihrer Pendants in Berlin. In einem Raum ist gerade Leseunterricht für die erste Klasse, 17 Kinder sitzen hier. Heute gibt es für sie etwas Besonderes, jeder bekommt ein Plüschtier: Einen Hund mit einem traurigen Gesicht, der die Kinder mit seinen langen Armen mit Klettverschluss umarmen kann. Das Kuscheltier ist eine Erfindung aus Israel und soll Kindern bei der Bewältigung von Traumata helfen. Die Erstklässler brechen in Begeisterungsstürme aus, manche hängen sich die traurigen Hunde um den Hals, nachdem sie ihnen Leibchen angezogen und sie mit Klebeherzen geschmückt haben.

„Das ist cool, ich habe eine neue Mütze“, sagt Oksana, die Sechsjährige legt sich ihren Hund abwechselnd um den Hals und auf ihren Kopf. Sie sagt, ihr gefalle es hier, auch wenn sie Online-Unterricht lieber möge. „Da kann man Kamera und Ton ausschalten und machen, was man will“, erklärt sie mit entwaffnender Ehrlichkeit. Sie finde es „etwas komisch“, dass der Offline-Unterricht unterirdisch stattfindet. Warum das so sein muss, darauf hat Oksana keine Antwort. Sie weiß aber, dass Krieg ist. Auf die Frage, wer sie zur Schule bringt und abholt, sagt sie: „Das macht Mama. Mein Papa kämpft.“

Volodymyr sitzt ein paar Räume weiter in der achten Klasse, nach dem Biologieunterricht ist gerade Pause. Die Kinder bekommen Saft und ein Hotdog, die Stadtverwaltung zahlt das Essen. „Wir sind hier, damit wir vor den Explosionen draußen geschützt werden und während des Unterrichts sicher sind“, sagt der 13-Jährige. Dennoch würde er lieber wieder in eine normale Schule gehen. „Ich vermisse das Licht, das durch die Fenster kommt.“ Ihm fehlten der Sportunterricht und das Spielen auf dem Pausenhof.

Russische Angriffe zwingen Kinder in die U-Bahn – „Wir hassen sie dafür“

In der Metro-Schule bleiben die Kinder in der Pause an ihren Tischen, wo sollen sie auch sonst hin. Es gibt eine Toilette für kleine Kinder, die anderen müssen in den Pausen in Begleitung von Lehrern auf die Bahnhofsklos.

„Natürlich wäre es besser, wenn die Kinder im Tageslicht zur Schule gehen könnten“, sagt Schulpsychologin Viktoria Fedyanina (55). „Aber in einer Situation wie dieser, wo die Stadt jederzeit von Raketen getroffen werden kann, ist das die beste Möglichkeit.“ Die Metro-Schulen hätten Kinder stabilisiert, die unter psychischen Problemen gelitten hätten, weil beispielsweise ein Elternteil im Krieg gefallen sei.

„Die Schulen haben definitiv einen guten Einfluss auf die Kinder“, sagt Fedyanina. Besonders gelte das für die Erstklässler, die wegen Covid und des Krieges nie in den Kindergarten gegangen seien. „Es ist ihre erste Möglichkeit zur Sozialisierung. Das ist ziemlich spät, aber besser als nie.“

Behördenchefin Bashkirova findet es „furchtbar“, dass die Russen mit ihrem Angriffskrieg die Kinder in Charkiw unter die Erde gezwungen haben. „Wir hassen sie dafür.“ Zum Abschied sagt sie, sie hoffe, die ausländischen Reporter „am Tag des Sieges“ der Ukraine wieder in Charkiw begrüßen zu können. „Dann laden wir Sie zu unserer Schließungszeremonie hier unten ein“, kündigt sie selbstbewusst an. „Und dann zeigen wir Ihnen unsere schönen Schulen über der Erde.“

Mitarbeit: Yurii Shyvala