Die Regierung in Kiew will 160.000 Mann einziehen. Rekrutierungstrupps suchen nach Wehrpflichtigen.
Mangel an SoldatenFlucht vor der Front – Widerstand gegen Zwangsrekrutierungen in der Ukraine
Georgy entdeckt die Soldaten in der südukrainischen Hafenstadt Odessa im letzten Moment. Sie gehören zu den berüchtigten Trupps, die Ukrainer im wehrpflichtigen Alter festnehmen und ins Trainingslager stecken, um sie nach viel zu kurzer Ausbildung in den Kampf gegen die übermächtigen russischen Besatzer zu schicken. Georgy stoppt abrupt, macht auf dem Absatz kehrt und rennt. Auf keinen Fall will der 41-Jährige an die Front – er befürchtet, andernfalls nie wieder von dort zurückzukehren. Als er außer Sichtweite und wieder zu Atem gekommen ist, sagt er über die Rekrutierungssoldaten: „Wenn man vor ihnen davonrennt, rennt man vor dem Tod davon.“
Wegen des dramatischen Mangels an Soldaten hat die Regierung in Kiew angekündigt, bis Ende Januar weitere 160.000 Mann einzuziehen. Viele Ukrainer versuchen verzweifelt, sich einer Zwangsrekrutierung zu entziehen. In sozialen Medien wird davor gewarnt, wo die Trupps gerade unterwegs sind. Dort kursieren Videos davon, wie brutal die Rekrutierungssoldaten manchmal vorgehen. Auf Aufnahmen ist zu sehen, wie sie wehrlose Männer aus Autos zerren, aus Straßenbahnen abführen oder auf offener Straße mit Schlägen traktieren.
Georgy ist ihnen nicht das erste Mal entwischt. „Ich passe normalerweise auf“, sagt der 41-Jährige, der als Verkaufsleiter arbeitet und weder seinen Nachnamen nennen noch sich fotografieren lassen möchte. „Aber das ist ein Ort, wo sie selten stehen.“ Ob er kein schlechtes Gewissen habe, dass andere Ukrainer das Land verteidigten, während er sich verstecke? „Ich will nicht kämpfen“, sagt er. In Odessa seien Restaurants und Cafés geöffnet, das Leben gehe dort trotz des Krieges weiter. „Warum soll ich in den Krieg ziehen, während andere sich vergnügen?“
Zwei Wege weg von der Front: Tod oder Verwundung
Wie schwierig die Lage bei den Streitkräften ist, darauf deuten Statistiken über unerlaubte Abwesenheiten und Fahnenflucht hin: Im ersten Kriegsjahr 2022 verzeichnete die Justiz insgesamt 10.083 Fälle, im Folgejahr waren es bereits 25.541. Allein zwischen Januar und September dieses Jahres hat sich die Zahl mehr als verdoppelt, sie lag bei 53.503. Die Dienstpflicht ist während des Krieges zeitlich unbegrenzt. Wer einmal in der Armee ist, weiß also nicht, wann er ins Zivilleben zurückkehren darf. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt es in der Ukraine nicht. Soldaten spotten, bis auf Fahnenflucht führten nur zwei Wege weg von der Front: Tod oder Verwundung.
Im Zentrum der Hauptstadt Kiew demonstrieren Ehefrauen von Soldaten. Sie fordern, dass ihre Männer nach einer gewissen Zeit von der Front heraus rotiert werden und nach Ablauf einer Frist die Möglichkeit bekommen, den Dienst zu quittieren. Alona (38) sagt, ihr Ehemann kämpfe seit dem ersten Tag des russischen Einmarschs. Der zehn Jahre alte Sohn frage immer wieder, wann der Vater zurückkomme. „Ich sage ihm dann, dass ich es nicht weiß.“
Auch Natalya ist unter den Demonstrantinnen. Obwohl ihr Ehemann an der Front ist, hat sie Verständnis für ihre Landsleute, die sich dem Dienst entziehen. „An ihrer Stelle würde ich auch nicht gehen, wenn ich nicht wüsste, wie lange ich in der Armee bleiben müsste“, sagt die 47-Jährige. „Glauben Sie mir, wenn es einen klaren Zeitrahmen gäbe, gäbe es so viele Freiwillige wie 2022.“ Damals meldeten sich nach dem russischen Überfall etliche Ukrainer freiwillig zum Dienst. Wer heute noch nicht kämpft, hat in der Regel kaum Ambitionen dafür.
Am Checkpoint freigekauft
Auch Anton (35) nennt als einen der wesentlichen Gründe, warum er sich dem Wehrdienst entzieht, dass unklar ist, wie lange er kämpfen müsste. Der Familienvater aus Kiew, der nicht wirklich Anton heißt, hat seinen Musterungsbescheid bereits im Juni 2022 bekommen. Weil er dem nicht nachgekommen ist, wird seit August 2023 nach ihm gefahndet. Vor drei Monaten wurde er schließlich an einem Checkpoint gestoppt – wo er sich mit Schmiergeld freikaufte.
Die Soldaten hätten 3000 Dollar gefordert, sagt Anton. „Ich hatte 1300 Dollar dabei.“ Am Ende habe man sich auf 1800 Dollar (rund 1700 Euro) geeinigt, sein Vater habe ihm das fehlende Geld an den Checkpoint gebracht. Der 35-Jährige besitzt einen Lastwagen und macht Umzüge, bei dieser Arbeit kann er sich nicht zu Hause verstecken. Um das Risiko zu minimieren, den Rekrutierern ins Netz zu gehen, nehme er außerhalb Kiews keine Aufträge mehr an, sagt er. Sollte er dennoch in eine Kontrolle kommen, sei er vorbereitet. „Normalerweise habe ich deswegen immer zwischen 1000 und 1500 Dollar dabei.“
Die Regierung in Kiew hat zwar Fortschritte bei der Bekämpfung der Korruption gemacht, diese stellt aber weiterhin ein gigantisches Problem dar. Auf dem Index von Transparency International ist die Ukraine auf Rang 104 von 180 Staaten – je tiefer ein Land auf der Skala liegt, als desto korrupter gilt es. Anton nennt Korruption als einen der wichtigsten Gründe, warum er nicht zur Armee möchte. „Die Soldaten an der Front bekommen deswegen nicht die Ausrüstung, die sie brauchen“, sagt Anton. „Soldaten müssen Kommandeure schmieren, um Urlaub zu bekommen.“
Dass es paradox ist, Korruption zu beklagen, sie aber gleichzeitig selbst zu fördern, weiß auch er. Dennoch sagt er, er habe kein schlechtes Gewissen. „Ich muss meine Kinder, meine Ehefrau, meine Eltern und meine Großeltern finanziell versorgen.“ Das könne er als Soldat nicht so gut leisten wie als Zivilist. Allerdings sei es anstrengend, stets auf der Hut vor den Rekrutierungstrupps sein zu müssen. „Manchmal fühle ich mich wie ein Fisch, der versucht, vom Haken zu kommen.“
Misstrauen gegen Ärzte bei der Musterung
Serhii will das System nicht austricksen, verzweifelt aber daran. Der 47 Jahre alte Lkw-Fahrer sagt, er leide unter Bluthochdruck und Rückenproblemen. Obwohl die ärztlichen Untersuchungen im Rahmen seiner Musterung in Kiew noch liefen, hätten Rekrutierungstrupps bei einer Fahrt in den Westen des Landes versucht, ihn festzusetzen. Nur über Beziehungen habe er erreicht, dass man ihn gehen ließ.
Die Ärzte bei der Musterung genießen kaum Vertrauen. „Bei ihren Untersuchungen würde man sogar als tauglich erklärt, wenn man tot wäre“, spottet Anton. Serhii sieht das ähnlich. „Wenn man zwei Beine und zwei Arme hat, kann man aus ihrer Sicht dienen.“ Er befürchtet, dass er trotz seiner Gebrechen in den Kampf geschickt werden soll. „Aber ich werde nicht an die Front gehen.“ Wie er das vermeiden wolle? „Darüber habe ich mir ehrlich gesagt noch keine Gedanken gemacht.“
Dem Zwangsdienst entgehen manche, indem sie außer Landes fliehen. Zwar ist Männern im wehrfähigen Alter seit Verhängung des Kriegsrechts die Ausreise mit wenigen Ausnahmen verboten. In sozialen Medien finden sich aber auch dafür (illegale) Lösungen. Ein Menschenschmuggler mit dem Pseudonym Tom, der sich auf Telegram hinter einem Katzenbild versteckt, bietet an, Ukrainer für 7000 Dollar mit dem Auto nach Moldau zu bringen. „Kunden“ haben positive Bewertungen hinterlassen. „Tom hält sein Wort“, schreibt einer. „Ich bin mit dem Ergebnis sehr zufrieden.“
Mitarbeit: Andrii Kolesnyk