Parallelen zum Ukraine-Krieg„Das historische Muster ist 1938/39“
Herr Rödder, nach dem 11. September 2001 sagten viele, die Welt sei eine andere. Ist der Einmarsch Russlands in die Ukraine eine ähnlich tiefe Zäsur?Andreas Rödder: Das ist eine tiefere Zäsur als der 11. September 2001. Der russische Präsident Wladimir Putin ist bereit, militärische Gewalt gegen souveräne Staaten als reguläres Mittel seiner Politik einzusetzen. Das zeigt sich nach der Anwendung militärischer Gewalt gegen Georgien 2008 und der Annexion der Krim im Jahr 2014 nun endgültig. Damit zerstört er eine regelbasierte internationale Ordnung, die auf der Herrschaft des Rechts statt auf dem Recht des Stärkeren beruht.
Gibt es ein historisches Muster, aus dem wir für die Gegenwart im Ukraine-Krieg lernen können?
Das historische Muster, das uns eine Warnung sein muss, ist die Appeasement-Politik mit dem Münchner Abkommen vom September 1938 und der Abtretung der sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich. Ein halbes Jahr später rollten Panzer der Wehrmacht in Prag ein, das verbliebene Tschechien wurde besetzt, und der Politikansatz der Zugeständnisse an den Aggressor war gescheitert. An diesem Punkt wie 1939 sind wir jetzt. Wir brauchen kein Appeasement, keine Beschwichtigungspolitik. Wir brauchen eine Politik des Containment, also der Eindämmung.
Sind diese Situationen tatsächlich vergleichbar?
Es geht nicht darum, Putin mit Adolf Hitler zu vergleichen – und auch nicht darum, Ängste vor einem weiteren Weltkrieg zu schüren. Aber wir dürfen uns auch keine Denk- und Sprechverbote auferlegen. Es gibt eine geostrategisch vergleichbare Situation. Hitler betrieb damals eine expansive Politik, und ihm wurde zu lange kein Einhalt geboten. Putin setzt dazu an, den Weg zu einem großrussischen Reich zu gehen, ohne Rücksicht auf die Existenz souveräner Staaten. Es ist die Frage, ob der Westen sich ihm noch rechtzeitig in den Weg stellt.
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Welche Parallelen sehen Sie noch?
Putins Propagandalüge, es gebe im Osten der Ukraine einen Genozid an Russen, erinnert an die nationalsozialistische Propaganda, die einen polnischen Überfall auf den Sender Gleiwitz behauptet hat – als Vorwand für den Einmarsch in Polen. Putins Vorgehen stammt aus dem Lehrbuch des militaristischen Expansionismus, und zwar mit aller Skrupellosigkeit. Er wirft der Ukraine einen „Genozid“ vor – dabei war es Stalin, der von Moskau aus in den 30er Jahren eine Hungersnot in der Ukraine auslöste, die wir heute als Genozid bezeichnen. Putin macht die Opfer zu Tätern. Das ist besonders perfide.
Zur Person
Andreas Rödder, geb. 1967, ist Professor für Neueste Geschichte an der Johannes-Gutenburg-Universität Mainz. Aktuell lehrt er als Gastprofessor an der Johns-Hopkins-Universität in Washington.
Rödder ist Autor des Bestsellers „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“. Der konservative Historiker leitet die Fachkommission „Wertefundament und Grundlagen der CDU“ für das neue Grundsatzprogramm der Partei.
Wie werden Historiker in 100 Jahren auf diesen Krieg schauen?
Das hängt davon ab, welche Entscheidungen jetzt getroffen werden. Wenn Europa und der Westen zu einer Politik der glaubwürdigen Abschreckung finden, können Historiker in 100 Jahren hoffentlich sagen: Es ist dem Westen aus einer Situation der Schwäche heraus gelungen, sich selbst zu behaupten. Wenn das nicht der Fall ist, wird die Nachwelt auf das Jahr 2022 womöglich so zurückschauen, wie wir heute auf 1938/39 blicken. Wir würden vom großen Versagen des Westens und dem Ende einer regelbasierten Weltordnung sprechen. Das ist es, was auf dem Spiel steht. Und was wir jetzt verhindern müssen.