Tankred Stöbe, Notarzt und früherer Präsident von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland, spricht im Interview über seine Einsätze in der Ukraine.
„Ärzte ohne Grenzen“ im Ukraine-Krieg„Timofei durfte nicht schreien, um seine Kameraden nicht zu verraten“
Herr Stöbe, sie waren dreimal für Ärzte ohne Grenzen in der Ukraine. Welche Aufgaben hat Ihre Organisation vor Ort übernommen?
Im ersten Jahr halfen wir dabei, Heime für psychisch kranke und bettlägerige Patientinnen und Patienten zu evakuieren und wir brachten einen Zug sprichwörtlich auf die Schienen, der Schwerverletzte aus dem Osten ins Zentrum der Ukraine transportiert. Alle Waggons haben wir zu medizinischen Abteilen umgebaut. Es gibt sogar ein Intensivabteil, in dem zehn beatmete Patienten versorgt werden können. Auf diese Weise wurden mehr als 4000 Menschen aus dem Kriegsgebiet evakuiert.
Die Kriegschirurgie liegt weitgehend in den Händen des Gesundheitsministeriums. Bei unserer Arbeit konzentrieren wir uns auf chronisch Kranke sowie physiotherapeutische und psychosoziale Hilfestellung. Das Bewusstsein, dass dieser Krieg nicht nur physische sondern auch seelische Wunden hinterlässt, ist größer geworden. Bei beiden Arten der Verletzung gilt: Je später mit der Behandlung begonnen wird, desto schlechter sind die Heilungschancen.
Wie lange dauerten Ihre Einsätze an?
Jeweils vier Wochen. Im Sommer 2022 war ich das erste Mal dort, dann im Januar 2023 und zuletzt wieder im Sommer 2023. Es ist das erste Mal, dass ich dreimal hintereinander im gleichen Krisengebiet eingesetzt wurde. Für mich war es interessant, die Entwicklung im Land über diese eineinhalb Jahre mitzubekommen.
Welche Entwicklung war das?
Die Entschlossenheit der Ukrainerinnen und Ukrainer, sich zu wehren, ihr Land und ihre Zukunft zu verteidigen, ist eher größer geworden. Ich hörte immer häufiger das Argument: Unter politischen Bedingungen wie in Russland möchten wir nicht leben. Gleichzeitig machen sich die Menschen kaum noch Illusionen über die Grausamkeit des Krieges. Im ersten Jahr wollten die meisten Verwundeten schnell gesund werden, um zurück an die Front zu gehen. Bei meinem letzten Einsatz begegneten mir immer Menschen, die sagten: Wenn ich gesund werde, will ich nie wieder in die Nähe dieser Front, ich weiß, wie tödlich dieser Krieg ist. Deshalb verstehe ich es nicht ganz, wenn in Deutschland von Kriegsmüdigkeit gesprochen wird. Uns betrifft das nur aus der Ferne – die Ukrainerinnen und Ukrainer zahlen jeden Tag den Preis für diesen Krieg.
„Wir sehen viele Schwerverletzte und deutlich weniger Leichtverletzte“
Gab es Situationen, in denen Sie Angst um ihr eigenes Leben hatten?
Selten, aber das kommt vor. Im Januar vergangenen Jahres waren wir in Dnipro. An einem Nachmittag hörten wir, wie zwei Kilometer entfernt eine fast 1000 Kilo schwere Bombe in ein Wohnhaus einschlug. Dutzende Menschen wurden getötet, viele weitere schwer verletzt. Natürlich herrscht nirgendwo im Kriegsgebiet absolute Sicherheit. Trotzdem war der Tod so vieler Zivilistinnen und Zivilisten, die nicht nur aus ihrem Alltag, sondern aus ihrem Leben gerissen wurden, erschütternd. In den vergangenen zwei Jahren Krieg wurde kein Mitarbeitender von uns direkt durch den Krieg getötet. Da hatten wir auch Glück. Die Bombe hätte auch unser Haus treffen können.
Welche Kriegsverbrechen haben Sie mitbekommen?
Wir als humanitäre Organisation sind besonders besorgt, wenn Gesundheitseinrichtungen angegriffen werden. In Cherson steht im Grunde kein Krankenhaus, das noch nicht bombardiert wurde. Das ist grausam, aber es ist so weit Normalität, dass es kaum noch zu einem Aufschrei führt.
Sie arbeiteten für Ärzte ohne Grenzen bereits im Jemen, in Gaza und anderen Kriegsgebieten. Inwiefern haben sich diese Einsätze von dem in der Ukraine unterschieden?
Im Vergleich zu anderen Kriegsgebieten ist die medizinische Infrastruktur in der Ukraine sehr gut. Die Krankenhäuser haben zwar auf Kriegswirtschaft umgestellt, können aber trotzdem eine eindrucksvolle Qualität aufrechterhalten – das war in Syrien, Afghanistan und Jemen nicht so. Was aber ebenfalls anders ist: Der Krieg in der Ukraine ist sehr ballistisch und artilleriebasiert. Es kommen vor allem schwere Waffen zum Einsatz, die Verletzungen sind dementsprechend grausam. Wir sehen viele Schwerverletzte und deutlich weniger Leichtverletzte.
„Wir sehen viel Mut und Resilienz“
Wie haben Sie die humanitäre Situation erlebt?
Wir müssen von dutzenden bis hunderten Toten pro Tag ausgehen. Genaue Zahlen gibt keine Seite preis, aber wir bekommen durch die Behandlungen ein Bild über das Ausmaß der Kriegsverletzungen. Bei vielen Menschen, die im Krieg verstümmelt werden, sehen wir sehr viel Mut und eine hohe Resilienz. Es gibt aber auch Patienten, die in ein depressives Loch fallen. Diesen Menschen wieder auf die Beine zu helfen – physisch wie psychisch – ist schwer. Dass dieser Krieg schon zwei Jahre andauert, ist aus humanitärer Sicht eine absolute Katastrophe. Es fand unglaubliches Leid auf beiden Seiten statt.
Gibt es Patienten, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?
Viele. Am meisten vielleicht Timofei, ein junger Mann, den ich im ersten Sommer kennenlernte. Er wurde bei Kämpfen schwer verletzt, sein Bein musste noch an der Front abgebunden werden. Bis er evakuiert werden konnte, vergingen mehrere Stunden. Er sagte zu mir: Die Schmerzen waren so unerträglich, dass er nur noch schreien wollte. Das konnte er aber nicht, weil er dann seine Position und die seiner Kameraden verraten hätte. Nicht schreien zu können war für ihn das Allerschlimmste. Sein Bein musste im Krankenhaus amputiert werden, er bekam eine Prothese. Ich blieb mit ihm in Kontakt. Letztens schickte er mir ein Bild von ihm beim Wandern in den deutschen Alpen. Für mich ist er ein Beispiel dafür, wie manche Menschen trotz schwerster Verletzungen zurück ins Leben finden.
Spüren Sie als Hilfsorganisation eine schwindende Solidarität des Westens mit den Menschen in der Ukraine?
Ja und nein. Die Aufmerksamkeit lässt nach, spezielle Spenden für die Ukraine haben wir nur in den ersten Wochen und Monaten bekommen. Andererseits kann ich mich an keinen anderen Konflikt erinnern, bei dem die Anteilnahme zwei Jahre angehalten hat. Normalerweise schwindet sie nach einigen Wochen. Insofern ist die Solidarität trotzdem beispielhaft – das wünsche ich mir auch für andere Konflikte wie in Haiti und dem Sudan.
Zur Person: Tankred Stöbe ist Rettungsmediziner, Internist und Buchautor. Nach seinem Medizinstudium arbeitete er als Notarzt und Intensivmediziner in Berlin und Herdecke. Von 2007 bis 2015 war er Präsident der deutschen Sektion der privaten Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“, heute arbeitet er im Vorstand der französischen Sektion.