Olga Kobzeva floh im Sommer mit ihrem Sohn vor dem Krieg in der Ukraine nach Köln. Ihr Mann blieb zurück. Die Geschichte einer besonderen Fernbeziehung.
Familienleben zwischen Flucht und Krieg„Mein größter Wunsch ist, dass wir alle drei wieder zusammen sind“
Olga Kobzeva winkt, als auf dem Handybildschirm das Gesicht ihres Mannes erscheint. Kurz vorher hatte sie noch mit der Fotografin überlegt, wie man das Familienleben der Kobzevas am besten in Bildern dokumentieren kann; Olga hatte kurzerhand Max Nummer gewählt. „Wie geht es Dir? Du siehst erfrischt aus“, sagt sie und lächelt. Max scheint sich weder über den plötzlichen Videoanruf zu wundern, noch über die fremden Leute im Hintergrund. Schließlich findet das Familienleben seit neun Monaten nur noch über Smartphone statt - egal, ob an Geburtstagen, Jahrestagen, Feiertagen oder an einem gewöhnlichen Montag wie diesem.
Seit elf Jahre sind Olga und Max ein Paar, seit zehn sind sie verheiratet. Viele Jahre, in denen sie ihr Leben miteinander teilten. Das änderte sich, als am 24. Februar Putins Armee in die Ukraine einmarschierte: Heute lebt Olga mit dem gemeinsamen Sohn Oleksandr in Köln, Max blieb in Kiew zurück, 1.650 Kilometer von seiner Familie entfernt.
Familie zwischen Flucht und Krieg
Während Olga und Alexander sich auf dem Schulweg Ratespiele zum Deutschlernen ausdenken, pendelt Max von Irpin nach Kiew zur Arbeit, um nach Feierabend Spenden für die ukrainische Armee zu sammeln. Jeden Tag, wenn Alexander Schulschluss hat, ruft Olga seinen Vater an. Für ein bisschen Familienleben zwischen Flucht und Krieg.
Als Olga Max in Kiew kennenlernte, hätte sie nie gedacht, dass sie diesen Mann einmal heiraten würde. Sie könnten kaum unterschiedlicher sein: Max ist ein sehr freundlicher, ruhiger Mann, sagt Olga. Jemand, der gerne zwischen Buchseiten verschwindet und Romantik liebt. Sie selbst sei sehr emotional, etwas aufbrausend, aber voller Energie und Tatendrang. „Er und ich, wir sind wie Feuer und Wasser.“
Ein Heiratsantrag nach sechs gemeinsamen Monaten
Vielleicht verliebte sie sich gerade deshalb in Max. Weil sie sich bei ihm sicher fühlt, als stünde stets jemand hinter ihr, so unerschütterlich wie eine Steinmauer. Nach sechs gemeinsamen Monaten macht Max ihr einen Heiratsantrag, wieder ein halbes Jahr später sind sie Mann und Frau. Vor sieben Jahren kam ihr Sohn Oleksandr auf die Welt.
Feuer und Wasser. Olga liest sich durch stapelweise Ratgeber zu Kindererziehung und Kinderpsychologie, sie motiviert Oleksandr durch viel Lob. Und es fällt ihr schwer, ruhig zu bleiben, wenn er seine Hausaufgaben einfach nicht versteht. Max dagegen ist streng, er verlangt viel von seinem Sohn. Und er bleibt während der Hausaufgaben geduldig neben ihm sitzen und erklärt, bis es endlich klappt.
Max meldet sich freiwillig für die Verteidigung von Irpin
Eine Woche vor Kriegsbeginn nehmen Olga und Max einen hohen Kredit auf und ziehen raus aus Kiew, nach Irpin, einen beliebten Ort für junge Familien. Eine ruhige Stadt mit Wäldern, Spielplätzen und Kindergärten. Dass tatsächlich ein Krieg ausbrechen könnte, halten Olga und Max für ausgeschlossen.
Vier Tage bleiben sie in Irpin, während um sie herum Bomben und Raketen niedergehen. Vier Tage ohne Strom und Wasser, vier Tage, in denen das Essen knapper und knapper wird, vier Tage, in denen sie zu viel Angst haben, um zu fliehen. Olga schickt ihrer Mutter, die in Lugansk lebt, Fotos von den Zerstörungen in Irpin, sie schickt ein Video von den Fenstern ihrer Wohnung, die durch die Einschläge zittern. Habt Geduld, sagt die Mutter. Die Russen wollen doch nur die Regierung stürzen. Das ist für euch nicht gefährlich. Olga überlegt, den Kontakt zu ihrer Mutter abzubrechen, Max hält sie davon ab. Am fünften Tag fliehen Olga, Max und Alexander in die Westukraine.
Knapp drei Monate später kehren sie in das mittlerweile befreite Irpin zurück. Ihr Haus steht noch, nur die Fenster sind zerborsten. Um sie herum liegen die Trümmer, die einmal Irpin waren. „Ich will so eine Zukunft nicht für euch“, sagt Max zu Olga. „Ihr könnt fliehen, ihr müsst weiterleben.“ Olga packt zwei kleine Koffer, einen für sich, einen für Oleksandr, sie nimmt kaum persönliche Gegenstände mit, nur ihre Kamera und ein gerahmtes Foto von ihr mit ihrem Sohn. Am nächsten Tag steigen Olga und Oleksandr in einen Zug nach Polen. Max meldet sich freiwillig für die Verteidigung von Irpin: Sollte Russland die Stadt erneut angreifen, will er sich ihnen entgegenstellen. Nur auf Olgas Flehen hin schließt er sich nicht direkt der ukrainischen Armee an.
„Das Wichtigste in meinem Leben ist geschützt“
In Köln wurde Olga von ihrer Freundin Natalia empfangen. Noch von Irpin aus hatte sie außerdem nach einer Unterkunft in Köln gesucht: Olga und Oleksandr kommen bei einer Familie in Nippes unter.
Chat zwischen Olga und Max
Olga: Mein größter Wunsch ist, dass wir alle drei wieder zusammen sind. Wir vermissen dich beide so sehr. Es ist, als würden wir am Bahnhof sitzen und immer nur darauf warten, dich zu sehen. Und je länger wir hier sind, desto trauriger bin ich ohne dich.
Max: Hase… Ich bin in Gedanken immer bei dir. Dass du weit weg von mir bist, habe ich immer noch nicht verstanden. Du bist mir nah, aber ich sehe dich nicht.
In den ersten Tagen und Wochen in Köln macht sie sich furchtbare Sorgen. Sie hat Angst, dass aus dem Krieg ein Atomkrieg werden könnte und dann selbst Deutschland nicht mehr sicher ist, Angst um Max, der in der Nähe der Zuggleisen in Kiew arbeitet – ein potenzieller Angriffspunkt, falls Russland die ukrainische Infrastruktur attackiert.
Olga will niemandem zur Last fallen
Die deutsche Familie, bei der sie unterkommen, ist sehr nett, sagt Olga. Trotzdem versucht sie, so wenig Zeit wie möglich in dem Haus zu verbringen, um die Familie nicht zu stören. Als die Großmutter ihren 80. Geburtstag feiert, fotografiert Olga mit ihrer Kamera. Die Familie verkauft die Fotos an andere Familienmitglieder und sammelt so Geld. Als Olga im September mit Oleksandr in ihre eigene Wohnung zieht, kauft sie sich davon Möbel.
Olga: Heute sagte der Kleine, dass er nicht in Deutschland, sondern bei seinem Vater in der Ukraine leben will.
Max: Umarme ihn für mich.
Olga: Das mache ich. Jeden Tag.
Max: Ich weiß nicht warum, aber ich bin total ruhig. Ich vermisse euch, aber ich bin mit mir im Reinen.
Olga: Ich bin nicht ruhig. Ich glaube, du verstehst warum.
Max: Du bist zwar nicht da, aber du bist sicher. Als ich am Samstagabend von dieser beschissenen Sirene aufgewacht bin, habe ich einfach an dich gedacht und bin wieder eingeschlafen. Denn das Wichtigste in meinem Leben ist geschützt.
Olga installierte einen Handyalarm, der losgeht wenn in Kiew die Sirenen heulen
In den ersten Monaten ohne ihren Mann, sagt Olga, habe sie sich gefühlt wie ein Kind. „Ich habe mich in Kiew nie um die Stromrechnungen und Ähnliches gekümmert.“ Während sie die gemeinsame Wohnung in Köln einrichtete, war Max über einen Videoanruf stets dabei. Er erklärte ihr, wie sie den Spiegel richtig anbringt, welche Schrauben sie für das Bett benötigt und wieso die Wohnung in der Nacht ständig kalt ist, obwohl doch alle Fenster geschlossen sind. Selbst im Baumarkt ist er über Video dabei und wählt mit Olga die richtigen Materialien aus. Olgas Handy ist nie auf stumm; Sie hat einen Alarm installiert, der immer losgeht, wenn in Kiew die Sirenen heulen. Damit sie ihren Mann direkt anrufen kann.
Olga: Verdammt! Ich hatte Angst um dich, du hast so lange nicht geantwortet. Zum Glück bist du am Leben!
Max: Es ist alles so verrückt. Ich möchte dich einfach nur umarmen.
Einmal, erzählt Olga, als Max mit dem Zug von Kiew zurück nach Irpin fuhr, verfolgt ihn eine kleine Katze bis zur Wohnungstür. Er behält sie. Die Katze hilft gegen die Einsamkeit, sie wärmt ihn, wenn im Haus mal wieder die Heizung aus- und die Kälte einfällt.
Max: Der Stromausfall in Kiew soll etwa zwei Stunden dauern. Kritische Objekte wie Krankenhäuser, Rettungsdienste etc. haben weiterhin Strom. Ich nehme jetzt ein Bad, solange das Wasser im Boiler noch warm ist, und lese ein Buch. Alle warnen vor erneutem Raketenbeschuss.
Olga: Pass auf dich auf.
Mit ihrer Mutter telefoniert Olga noch einmal die Woche, sie reden über Oleksandr, über ihren Alltag, darüber, was Olga zuletzt gekocht hat. Über den Krieg sprechen sie kein Wort.
Olga will auch nach dem Krieg in Köln bleiben
Trotz der Entfernung versuchen Olga und Max, die Romantik in der Ehe aufrecht zu erhalten. An ihrem Geburtstag überrascht er sie mit Blumen, Geschenken und Luftballons, zu ihrem Hochzeitstag schreibt er ein Gedicht. Und Olga bestellte Max zu dessen Geburtstag seine Lieblingspizza zur Wohnungstür.
Olga: Wie lange wird das noch dauern… Es ist mir egal, ob ich in der Ukraine oder in Deutschland bin, lass uns zusammen sein! Sogar in einer Hütte auf dem Feld! Dieser Krieg, diese Trennung hat die Prioritäten so verändert.
Max: Nimm unseren Sohn in den Arm, dann geht es dir besser. Habt Vertrauen und alles wird gut werden.
Heute wirkt Olga gelöst. Angekommen. Sie jobbt als Fotografin, hat Freunde gefunden und geht zweimal im Monat zur psychologischen Beratung für Geflüchtete. Hier, in Köln, hat sie sich in den vergangenen neun Monaten ein neues Leben aufgebaut. „Mir gefällt Deutschland“, sagt sie. „Trotz aller Schwierigkeiten.“ Ihre Zukunftspläne spielen mittlerweile in Köln, allerdings zu dritt: Sie, Max und Oleksandr, vereint in ihrer Dachgeschosswohnung in Chorweiler. Sie habe schon mit Max darüber gesprochen, sagt Olga, und er habe einem Umzug nach Köln nach dem Krieg zugestimmt. Ob er das wirklich ernst meinte oder es nur dahinsagte, um sie zu beruhigen, weiß sie nicht.
Oleksandr geht seit dem Sommer auf eine deutsche Schule, in eine Klasse für geflüchtete Kinder. Seine Lehrer sind zufrieden mit ihm, er lernt schnell. Vielleicht kann er bald schon in eine Regelklasse wechseln. Die Familie telefoniert jeden Tag, beim Frühstück, auf dem Schulweg, dem Rückweg zur Wohnung und vor dem Schlafengehen. Anfangs, sagt Olga, hat ihr Sohn sie noch jeden Tag gefragt, wann er seinen Vater endlich wiedersehen wird. Solche Fragen sind selten geworden. „Er hat sich daran gewöhnt, dass sein Vater nicht da ist.“