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Krieg in der UkraineReport aus einer Entbindungsklinik: Die Mütter von Kiew

Lesezeit 5 Minuten
Ein mehrstöckiges Wohnhaus in Kiew brennt nach einem mutmaßlich russischen Angriff in der Nacht zum 24. Juni.

Immer wieder treffen russische Raketen Wohnhäuser und andere Gebäude der zivilen Infrastruktur in Kiew, wie hier in der Nacht zum 24. Juni.

Inmitten der pulsierenden Metropole Kiew, die unablässig Ziel russischer Raketen ist, gibt es Gebäude von besonderer Bedeutung für das Leben: Entbindungskliniken. Ein Report.

Für ein Land wie die Ukraine, die schon vor dem russischen Überfall eine ständig sinkende Geburtenrate zu verzeichnen hatte, hat der Krieg auch in dieser Hinsicht verheerende Folgen. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums lag Zahl der Geburten im Jahr 2022 nur knapp über 200.000 – ein Rückgang um 61 Prozent gegenüber 2018. Im ersten Quartal 2023, als sich die Spannungen verschärften, kamen 45.135 Babys auf die Welt – eine Welt, die vom Donner russischer Marschflugkörper über der Stadt erfüllt ist.

Allein im Mai 2023 wurden nach Angaben der Stadtverwaltung Kiew sieben „Kinschal“-Luft-Boden-Raketen, 13 „Iskander“-Boden-Boden-Raketen und 65 Marschflugkörper vom Typ X-101, X-555 und „Kalibr” auf Kiew abgefeuert. Darüber hinaus wurden im selben Zeitraum etwa 170 „Schahed“-Drohnen aus iranischer Produktion über Kyjiw abgeschossen.

Wie die ukrainischen Mütter unter diesen Umständen Kinder gebären, übersteigt mitunter die Vorstellungskraft. Trotz der Gefahr entscheiden sich viele Kiewerinnen für eine Entbindung in ihrer Stadt. Manche können sich eine Ausreise und die Geburt in einer westlichen Klinik nicht leisten. Andere setzen auf die Vertrautheit mit ihrer Heimat und den hiesigen Ärzten. Jede Geburt in diesen Zeiten ist ein Akt des Widerstands gegen die tödliche Logik des Krieges und die Schrecken der russischen Aggression.

Gezielte Angriffe in der Nacht sollen die Bevölkerung zusätzlich zermürben

Mai/Juni 2023. Nacht für Nacht, wenn wieder russische Raketen auf Kiew zurasen, muss das Personal der Entbindungsklinik im Zentrum Kiews handeln. Die Schwestern führen Mütter mit ihren Neugeborenen und Hochschwangere, die kurz vor der Geburt stehen, die Treppen hinunter in einen Luftschutzbunker. Diese Vorsichtsmaßnahme ist bei Luftangriffen für alle Patienten Kiewer Kliniken obligatorisch, weil die russischen Angriffe auch zivilen Einrichtungen der „kritischen Infrastruktur“ gelten.

Olena Schara vor der Entbindung in einer Kiewer Klinik

Olena Schara vor der Entbindung in einer Kiewer Klinik

Unter ukrainischen Militärexperten herrscht die Ansicht vor, der Gegner attackiere Kiew gezielt zwischen 2 und 6 Uhr morgens, um der Bevölkerung den Schlaf zu rauben und sie so zusätzlich zu zermürben. Besonders Frauen kurz vor der Geburt sind in einem Zustand äußerster emotionaler Anspannung bis zur psychischen Erschöpfung angesichts der unentwegten Angriffe. Statt die Vorfreude auf die Geburt ihres Kinds auszukosten oder daheim liebevoll letzte Hand an das künftige Kinderzimmer zu legen, finden sie sich im Krankenhausbunker wieder. Dort kommt es zu Hassausbrüchen gegen die russichen Angreifer, aber auch zu Angstattacken.

Die Schmerzenschreie der Schwangeren mischen sich mit Raketendonner

Im Bunker hat das Klinikpersonal eine provisorische Intensivstation eingerichtet. Eilig bereiten Krankenschwestern den Raum vor, als eine Frau, die oben im OP kurz vor einem Kaiserschnitt stand, auf dem Höhepunkt eines Raketenangriffs hereingebracht wird. Ljudmilas Schmerzensschreie hallen von den dicken Wänden des Bunkers wider. Dort hängen Monitore, die unablässig piepsen. Ein Notfallsystem zur Sauerstoffversorgungssystem steht bereit, ebenso wie ein EKG-Gerät, das über Sensoren am Bauch der Schwangeren die Herzschläge des ungeborenen Kindes misst. Gedämpftes Licht schafft eine eigenartig sanfte, beruhigende Atmosphäre. Im Zentrum des Raums steht ein Spezialbett, das einen Kaiserschnitt oder eine Not-OP erlaubt.

Während Ludmila in das OP-Bett gelegt wird, sitzen zwölf weitere Hochschwangere auf Bänken entlang der Bunkerwände. Ihr Stöhnen und Schmerzensschreie, ausgelöst durch künstliche Wehen, vermischen sich mit dem Raketendonner am Himmel. Die ukrainische Luftabwehr versucht, anfliegende Raketen und Drohnen abzuschießen. Der Explosionsdruck, der im Krankenhaus sämtliche Scheiben beben lässt, ist selbst noch im Bunker im Untergeschoss des Gebäudes zu spüren.

Im Chaos verbreiten Ärzte und Krankenschwestern ein Gefühl von Normalität

In diesem Chaos verbreiten Ärzte und Krankenschwestern ein Gefühl von Normalität. Hier geht es jetzt einzig und allein um Ludmila und ihr ungeborenes Kind. Eilig, aber unaufgeregt bringen die Schwestern die medizinischen Instrumente, legen Ljudmila Schläuche an. Mit sicheren Handgriffen bringen sie alles in Position, was bei der OP vonnöten sein könnte. Das Ärzteteam bereitet sich in einer Ecke des Raums auf die OP vor. In Ljudmilas Fall besorgen Herzprobleme und Bluthochdruck die Chirurgen, außerdem eine Schwangerschaftskomplikation.

Als sie mit dem Eingriff beginnen, herrscht völlige Stille im Raum. Die einzigen Geräusche sind das gespannte Atmen des Klinikpersonals und das rhythmische Piepsen der Monitore, eine Erinnerung an die Fragilität der menschlichen Existenz. Jede Bewegung, jede chirurgische Schnitt trägt die Last von Leben und Tod.

Auf Ludmilas Gesicht zeichnet sich eine Mischung aus Angst und Entschlossenheit ab. Eine Krankenschwester hält ihr die Hand. Minuten fühlen sich an wie Stunden, während das Chirurgenteam mit äußerster Präzision seine Arbeit tut. Das Leben von Mutter und Kind stehen auf Messers Schneide. Und dann - der Schrei eines Kinds. Ein Schrei von Trotz und von Triumph.

Olena Schara hält ihre neugeborene Tochter Emilia

Olena Schara mit ihrer neugeborenen Tochter Emilia

Auch meine Frau Olena gehört inzwischen in die Reihe der Kriegsmütter von Kiew. Einen Tag nach der Geburt von Ludmilas Kind in der Klinik setzten bei ihr während eines Überraschungsangriffs der russischen Armee mit ballistischen Raketen die Wehen ein – so rasch und so heftig, dass sie den Luftschutzkeller nicht mehr rechtzeitig erreichen konnte. Im Lärm der Raketen und zu den Klängen eines Songs der isländischen Gruppe „Sigur Ros“ mit dem passenden Namen „Viðrar vel til loftárása“ („Gutes Wetter für Luftangriffe“), brachte Olena am Nachmittag des 20. Juni unsere Tochter Emilia zur Welt – ein gesundes Kind, unser ganzer Stolz und ein kaum beschreibliches Glück.

Die mutigen Mütter von Kiew sind Trägerinnen der Hoffnung und Ikonen des Überlebens. In einer Zeit, in der die Welt Zeuge schrecklichen Leids ist, erinnern sie daran, dass das Leben auch unter den widrigsten Umständen weitergeht. Sie ermahnen auch dazu, für Frieden und Gerechtigkeit einzustehen, damit keine Frau ihr Kind unter solchen Gefahren gebären muss.

Unser Autor

Anatolii Schara (37) ist Big-Data-Ingenieur. Er lebt in Kiew. 2017 war Schara für die Deutsche Welle tätig. In loser Folge berichtet er für ksta.de aus der Ukraine.