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Reportage aus Cherson„Wir werden dir zeigen, wie die Hölle aussieht“ – Ukrainerin berichtet von Folter durch Russen

Lesezeit 8 Minuten
Viktoria Samlina (37), eine ukrainische Aktivistin.

Viktoria Samlina (37), eine ukrainische Aktivistin.

Cherson ist befreit, doch die Stadt ist noch im Würgegriff der Russen, die sie vom Dnipro-Ufer aus beschießen. Viele fliehen, wer noch dort ist, berichtet von russischen Kriegsverbrechen – und betet.

Während Viktoria Samlina in der südukrainischen Stadt ihre Geschichte aus dem Folterkeller erzählt, ist im Hintergrund das Grollen der russischen Artillerie zu hören. Am anderen Flussufer des Dnipro stehen die russischen Besatzer, von dort aus beschießen sie Cherson tagein, tagaus. Samlina steht vor dem unscheinbaren Bürogebäude, in dem ausweislich der Werbeschilder einst Versicherungen und Makler gesessen haben – und in dessen Keller sie im September und Oktober nach ihrer Darstellung 24 Tage festgehalten wurde.

Sie sei von ihren russischen Peinigern in dieser Zeit bei insgesamt vier Verhören geschlagen und mit Stromschlägen gefoltert worden, sagt die 37-Jährige. „Bei jedem Verhör erfanden sie neue Geschichten, um mich zu bestrafen.“

„Ich habe die Seele einer Rebellin“

Wer mit Samlina spricht, merkt schnell, dass ihren Peinigern eines nicht gelungen ist: Ihren Willen zu brechen. Die Frau mit den langen schwarzen Haaren – pinke Daunenjacke, schwarze Leggins, weiße Sneaker – ist selbstbewusst und hat schier unbändige Energie. Sie macht immer wieder Scherze, durchaus auch derbe. Auf die Frage nach ihrem Familienstand antwortet sie, um zu heiraten, müsste sie erst einmal einen Mann finden, „der größere Eier hat als ich“. Die 37-Jährige sagt: „Ich bin schon mein ganzes Leben lang so. Ich habe die Seele einer Rebellin.“

An Samlinas rechter Hand ist der Nagel des Mittelfingers inzwischen fast nachgewachsen. Sie sagt, bei einem der Stromschläge sei ihre Hand vor Schmerzen so verkrampft, dass der Fingernagel abgebrochen sei. „Ich habe gemerkt, wie das Blut runtertropfte.“ Auf ihrem Handy hat sie Fotos von Hämatomen an ihrem rechten Oberarm. Unabhängig überprüfen lassen sich ihre Vorwürfe nicht. Die Darstellung entspricht aber der von etlichen ukrainischen Zivilisten, die in die Fänge der Besatzer gerieten und über Folter durch Schläge und Stromschläge berichten.

UN erhob vor Monaten Folter-Vorwürfe gegen Russen in der Ukraine

Auch die Vereinten Nationen haben schon vor Monaten Folter-Vorwürfe gegen die russischen Streitkräfte in der Ukraine erhoben. Anfang März vergangenen Jahres hatten die Invasionstruppen Cherson eingenommen. „Das hat mich sehr wütend gemacht. Ich habe meinen eigenen Weg des Widerstands gewählt“, sagt Samlina. Sie habe patriotische Social-Media-Videos aufgenommen und Flugblätter verteilt. Außerdem habe sie sich einer Gruppe angeschlossen, die Lebensmittel für Bedürftige gekauft habe, dafür aber nicht – wie von den Besatzern vorgeschrieben – mit russischen Rubeln bezahlt habe.

Morgen werden wir dir zeigen, wie die Hölle aussieht.
Russische Soldaten zu Bewohnerin in Cherson

Bei einer Razzia seien sie und andere am 29. September festgenommen worden. Bei der Durchsuchung ihrer Wohnung hätten russische Soldaten unter anderem Bilder der Antoniwkabrücke über den Dnipro in Cherson gefunden – das habe zum Vorwurf geführt, dass sie Ziele für die ukrainische Artillerie ausspioniere. „Sie waren sehr wütend“, erinnert sich Samlina. „Sie sagten: Morgen werden wir dir zeigen, wie die Hölle aussieht.“

Drohungen und Folter: Berichte über grausame Methoden im Kellerverlies

Sie sei bei Verhören auch gezwungen worden, ihren Oberkörper zu entblößen. Die Soldaten hätten ihr gedroht, Stromdrähte an ihre Brustwarzen anzuklemmen. Letztlich habe sie Glück gehabt, dass die Drähte nur an ihren Fingern befestigt worden seien. Ihren vier Mitgefangenen im Keller – drei junge Männer und eine junge Frau – hätten Soldaten über die Ohrläppchen Stromschläge verpasst. Bei den Männern seien Drähte auch an den Genitalien angeklemmt worden.

Mit Essen hätten die Soldaten die Gefangenen einmal täglich oder auch nur alle zwei Tage versorgt, sagt Samlina. „Wenn sie gute Laune hatten, haben sie uns Trinkwasser gebracht.“ Die hygienischen Bedingungen in dem Kellerverlies seien miserabel gewesen. Als Toilette hätten sich die fünf Gefangenen einen Fünf-Liter-Bottich teilen müssen.

Transport aufs Feld: „Sie sagten uns, sie würden uns erschießen“

Am 22. Oktober hätten die Russen sie und andere Gefangene mit Lastwagen auf ein Feld außerhalb der Stadt gefahren. „Sie sagten uns, sie würden uns erschießen.“ Dann seien die Gefangenen aber laufen gelassen worden – verbunden mit der Warnung, nie nach Cherson zurückzukehren. „Ich war trotzdem innerhalb von zwei Stunden wieder zu Hause“, sagt Samlina. Sie habe sich auch danach nicht versteckt. „Ich hatte keine Angst davor, wieder gefangengenommen zu werden.“

Am 11. November – wenige Tage nach dem Ende von Samlinas Gefangenschaft – befreiten ukrainische Truppen Cherson, die Stadt liegt am rechten Ufer des Dnipro. Die Russen zogen sich auf das linke Ufer zurück. Eine Verbindung gibt es auf der Höhe von Cherson nicht mehr, die Antoniwkabrücke – die einzige Querung - wurde beim russischen Rückzug zerstört.

Ukrainische Fahnen wehen an einem der Haupt-Plätze in Cherson.

Ukrainische Fahnen wehen an einem der Haupt-Plätze in Cherson.

Auf dem weitläufigen Rathausplatz, der menschenleer ist, wehen die Flaggen Chersons, der Ukraine und der Europäischen Union. Viele Straßen sind verwaist, die meisten Geschäfte geschlossen. Gerade fährt der bunt bemalte „Siegeszug“ aus der Hauptstadt Kiew in den Bahnhof ein – auf den Gleisen links und rechts stehen Güterzüge, um die Passagiere vor etwaigem Beschuss zu schützen. Die ukrainische Eisenbahngesellschaft hat den Verkehr nach Cherson schon kurz nach der Befreiung wieder aufgenommen und damit ein wichtiges Signal gesetzt.

Auf dem Bahnhofsplatz steht ein Betonkasten, es ist ein Bunker, in den Passanten und die wenigen wartenden Taxifahrer bei Artilleriebeschuss fliehen können. In dem Schutzbau, gespendet von einem privaten Postunternehmen, sind Holzbänke an den Wänden, es gibt Licht und Steckdosen. An eine Hauswand an der Bahnhofsstraße hat ein Straßenkünstler eine Katzenfigur in ukrainischer Uniform gepinselt, die ihre Hand um den Hals des russischen Doppeladlers schließt.

Russland hält Cherson immer noch im Würgegriff

In Wirklichkeit hält eher Russland Cherson im Würgegriff – immer noch. Mit der Befreiung der Stadt endete zwar die Besatzung, nicht aber der Terror gegen die Zivilbevölkerung. Vom linken Flussufer aus beschießen die Russen die Stadt jeden Tag mit Artillerie. Früher hatte Cherson rund 290 000 Einwohner. Bei einer ersten Welle zu Kriegsbeginn seien rund 120 000 Bewohner geflohen, sagt der Vizechef der Militärverwaltung der Stadt, Roman Salabai. Diese Menschen seien nach der Befreiung nicht zurückgekehrt, im Gegenteil: „Jeden Tag fliehen weitere Menschen.“

Eine zweite Fluchtwelle habe eingesetzt, als die Russen mit dem Beschuss Chersons begonnen hätten, sagt Salabai. „Sie terrorisieren die Stadt, um sie in Angst zu halten.“ Durch den Beschuss komme es auch immer wieder zu Stromausfällen. Reparaturtrupps würden von den Russen gezielt angegriffen. Selbst die wenigen Menschen, die man auf der Straße sehe, lebten meist nicht dauerhaft in der Stadt. Sie kämen nur vorbei, um in ihren Häusern oder Wohnungen nach dem Rechten zu sehen. Salabai schätzt die Zahl der verbliebenen Einwohner in Cherson auf 60 000 – Tendenz sinkend.

Ukrainische Fahnen wehen an einem der Haupt-Plätze in Cherson.

Anastasia Smotrowa (22).

Anastasia Smotrowa gehört zu den wenigen Menschen, die sogar während der russischen Besatzung zurückgekehrt sind – und das, obwohl sie damals schon wusste, dass sie schwanger ist. Die 22-Jährige war mit ihrem Ehemann in die Stadt Saporischschja geflohen, die die ganze Zeit unter ukrainischer Kontrolle stand. „Ich wollte einfach wieder bei meinen Eltern sein“, sagt Smotrowa. Am 7. April soll ihre Tochter zur Welt kommen. Ob Cherson dafür ein guter Ort sei? „Wo soll ich sonst hingehen?“, fragt sie zurück. „Hier bin ich zu Hause.“ Ihre Mutter Irina Bokscha (47) sagt, wegen des Artilleriebeschusses hätten die Krankenhäuser Entbindungsstationen in die Keller verlegt.

Anastasia Smotrowa mit ihrer Mutter Irina Bokscha (47) und Oma Lydia Lisowetz.

Anastasia Smotrowa mit ihrer Mutter Irina Bokscha (47) und Oma Lydia Lisowetz.

Smotrowa steht mit ihrer Mutter und mit Großmutter Lydia Lisowetz (68) auf dem Markt in Cherson – drei Generationen, bald werden es vier sein. Am Stand vor dem Laden einer Frau, die geflohen ist und das Geschäft ihnen überlassen hat, verkaufen sie handgefertigte Besen und Körbe, Nudelhölzer und Schneidbretter aus den Karpaten. Das Geschäft läuft schlecht, weil es kaum Kundschaft gibt. Zeit zum Plaudern bleibt mehr als genug.

Großmutter Lisowetz erinnert sich an ihre deutschen Wurzeln, als sie hört, dass der Reporter aus Deutschland kommt. „Lang“ habe sie vor ihrer Heirat mit Nachnamen geheißen, sagt sie. Solange ihre Großmutter noch gelebt habe, sei in der Familie nur Deutsch gesprochen worden. Als viele andere Deutschstämmige aus der damaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik umsiedelten, habe ihr inzwischen längst verstorbener Ehemann nicht gehen wollen.

Bewohnerin berichtet von Plünderungen in Cherson

Die 68-Jährige strengt ihr Gedächtnis an, dann fällt ihr ein Reim ein, bei dem jeweils das erste Wort auf Ukrainisch und das zweite auf Deutsch ist: „Stil – Tisch; Ryba – Fisch; Nisch – Messer; Kraschtsche – Besser“, rezitiert sie stolz.

Mutter Irina Bokscha war die ganze Zeit über in Cherson. Am Anfang hätten sich die russischen Truppen zurückgehalten, sagt sie. Zu Beginn habe es auch noch Demonstrationen gegen die Besatzer gegeben. „Als Menschen nach den Protesten zu verschwinden begannen, haben die Demonstrationen aufgehört.“ In den Monaten vor ihrem Abzug hätten die russischen Truppen geplündert.

Viele in Cherson erzählen, dass sie Folteropfer aus der Besatzungszeit kennen, auch Tochter Anastasia Smotrowa: Ihr Ex-Freund habe ein Auge verloren, sagt sie. Tochter und Großmutter leben in Bezirken in Cherson, die als halbwegs sicher gelten, was angesichts des wahllosen Beschusses sehr relativ ist. Für die Mutter trifft das nicht zu. Sie und ihr Ehemann wohnen in einem Viertel am Fluss, in dem immer wieder Artilleriegranaten einschlagen, wie Bokscha berichtet. „Wir warten immer noch auf Hilfe vom Staat. Um woanders hinzuziehen, braucht man Geld. Ich habe kein Geld“, sagt die 47-Jährige. „Manchmal bebt die Erde unter den Füßen.“

Von den einst 1500 Einwohnern in ihrem Viertel seien vielleicht noch 100 übrig. „Ein Großteil des Viertels ist zerstört.“ Erst am Vortag sei am Morgen wieder eine Granate in ein leerstehendes Wohnhaus eingeschlagen. Bokscha ist überzeugt, dass sich die Lage nicht bessern wird, solange die Russen am anderen Ufer stehen. Sie sagt: „Ich bete jede Nacht, dass wir überleben.“