Beinahe täglich verlassen in diesen Tagen russische Frachter den Hafen von Sewastopol auf der Krim, wo es ein eigenes Getreideterminal gibt.
Millionen TonnenWie Russland ukrainisches Getreide klaut und heimlich verschifft
Rund 170 Meter lang und 27 Meter breit ist der russische Frachter mit dem Namen „Michail Nenaschew“. Ende Juni hat er den Hafen von Sewastopol auf der von Russland völkerrechtswidrig besetzten Halbinsel Krim verlassen. An Bord sollen mehrere Tonnen gestohlenes Getreide aus der Ukraine gewesen sein, sagen Schiffsbeobachter. Das Ziel der illegalen Fracht: Ägypten.
Getreide aus Cherson und von der Krim
Seit den ersten Kriegsmonaten plündert Russland systematisch in den eroberten Gebieten Getreidesilos und erntet jetzt die neuen Ähren auf den Feldern in den besetzten Regionen. „Für Russland sind der Diebstahl und die Verschiffung von gestohlenem Getreide zur Routine geworden“, sagt Jewgenija Gaber, eine ukrainische Schwarzmeerexpertin aus Odessa beim Atlantic Council. „Der Großteil des gestohlenen Getreides wird über das Schwarze Meer verschifft, weil das viel schneller und billiger ist als der Transport per Lkw“, sagt sie im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Das Getreide komme vor allem aus dem besetzten Teil der Region Cherson und von der besetzten Krim. Wegen der Kämpfe in den besetzten Gebieten sei es zudem schwieriger, Getreide auf dem Landweg zu exportieren. Auf dem Seeweg habe es Russland dagegen leicht.
Getreideschiffe laufen vor allem syrische Häfen an
Als Käufer kommen aber nur noch die Länder infrage, die weiterhin mit Russland Handel treiben. Und selbst die wollen Russland kein Getreide abkaufen, das offensichtlich gestohlen ist. „Russland kann das gestohlene Getreide nicht offiziell verkaufen, sondern muss Papiere fälschen und die Herkunft des Getreides verschleiern“, erklärt Expertin Gaber.
Das gestohlene Getreide aus den besetzten Gebieten der Ukraine werde in der Regel auf die Krim gebracht und dort auf ein Schiff verladen. Der wichtigste Hafen sei Sewastopol mit dem Awlita-Getreideterminal. „Von dort verschifft Russland den Großteil des ukrainischen Getreides.“ Die Schiffe fahren dann entweder zu türkischen Häfen an der nördlichen Schwarzmeerküste wie Zonguldak oder zum kaukasischen Hafen Kawkas auf der gegenüberliegenden Halbinsel, wo das Getreide umgeschlagen wird.
In Kawkas liegt auch das Schiff „Alfa M“, das vor wenigen Tagen im Krimhafen von Fjodosia 8500 Tonnen ukrainisches Getreide geladen haben soll. Mittlerweile laufen die meisten Schiffe laut Garbin aber vor allem syrische Häfen an.
Getreide im Wert von 1,7 Milliarden Euro
Der Bürgermeister von Melitopol, Iwan Fjodorow, sagte der Nachrichtenagentur AP, dass die russischen Besatzer große Mengen Getreide per Zug und Lkw zu Häfen in Russland und auf der Krim transportieren. Laut Bloomberg soll Russland im vergangenen Jahr mehr als vier Millionen Tonnen Getreide und Raps aus der Ukraine im Wert von 1,7 Milliarden Euro außer Landes geschafft haben.
Der Kreml bestritt den Diebstahl von Getreide im letzten Sommer zunächst. Doch selbst die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass berichtete darüber, dass ukrainisches Getreide mit Lastwagen auf die Krim transportiert worden sei, was zu langen Schlangen an Kontrollstellen geführt habe.
Russland verschleiert Herkunft von gestohlenem Getreide
Um die Herkunft des gestohlenen Getreides zu verschleiern, greift Russland zu einer weiteren Methode, die es zuvor bereits zur Verschleierung der Ölexporte angewandt hatte: Kleinere Schiffe bringen das Getreide zu großen Frachtern auf das offene Meer, wo die Ladung aus der Ukraine mit russischem Getreide vermischt wird. Die Getreidemischungen gehen dann nach Syrien, Ägypten, Libyen, dem Irak und Saudi-Arabien.
„Selbst wenn es einen Labortest gibt, ist es schwierig festzustellen, welcher Teil der Mischung aus der Ukraine und welcher aus Russland stammt“, so Expertin Gaber. Es sei schwierig, die illegale Fracht nachzuweisen, man müsse sich die tatsächlichen Routen der Schiffe, Fotos, Videos und Satellitenbilder ansehen.
Zuletzt haben die russischen Plünderungen zugenommen, beobachtet Gaber. Der Grund: Russland liefert ukrainisches Getreide kostenlos oder zumindest sehr billig an Entwicklungsländer im globalen Süden. „Russland will dafür nicht sein eigenes Getreide verwenden, für das es dann auch noch bezahlen müsste“, sagt die Expertin aus Odessa. „Es ist hauptsächlich das geplünderte ukrainische Getreide, das in diese Länder geht.“ Mit den Lieferungen wolle der Kreml seine Propaganda untermauern, Russland kümmere sich um die Welternährungskrise. Gleichzeitig aber lässt Putin die ukrainischen Getreidesilos in Odessa bombardieren.
Systematisch zerstören die Russen inzwischen die gesamte Getreideexportinfrastruktur der Ukraine. Die jüngsten Angriffe auf die ukrainischen Donauhäfen seien sehr präzise gewesen, sagt András Rácz, Experte für Russlands Außen- und Sicherheitspolitik von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
„Russland führt eine systematische Offensive gegen die ukrainischen Agrarexporte durch.“ Damit soll jedoch nicht nur der Wirtschaft der Ukraine geschadet werden. Die russische Landwirtschaft erwartet in diesem Jahr nach offiziellen Angaben eine Rekordproduktion. „Durch die Zerstörung der ukrainischen Agrarexporte schafft Russland einen besseren Markt für sein eigenes Getreide“, sagt Rácz.
Große Nachfrage nach Getreide nützt Russland
Das Agrarministerium der Ukraine hat Getreideimporteure gebeten, die gestohlenen Waren zu beschlagnahmen und bei der Dokumentation des Diebstahls zu helfen. Man will Beweise für mögliche Verbrechen sammeln.
In den meisten Fällen wissen die Importländer, dass das Getreide gestohlen ist, oder vermuten es zumindest. Die Ukraine informiert die Bestimmungsländer und bittet sie, das Schiff abzuweisen oder zumindest das Löschen der Ladung zu verbieten. Expertin Gaber erinnert sich an mehrere Fälle im Libanon und in der Türkei im vergangenen Jahr, bei denen Schiffe für einige Zeit festgehalten wurden. „In Ägypten durfte ein Schiff gar nicht erst in den Hafen einlaufen.“ Das sei aber nicht oft vorgekommen, und in letzter Zeit habe es fast keine solchen Fälle mehr gegeben. Laut Gaber hängen solche Maßnahmen stark vom politischen Willen, den Getreidepreisen und der Nachfrage nach Getreide im Inland ab. Bisher haben die Russen keine Probleme, Abnehmer für das gestohlene Getreide zu finden. Die Nachfrage sei groß, sagen Beobachter.
Im vergangenen Sommer konnte die Ukraine trotz des Krieges 33 Millionen Tonnen Getreide auf dem Seeweg exportieren. Diese Menge könne auf anderen Wegen nicht vollständig ersetzt werden, so Rácz. „Es wird also eine Menge ukrainisches Getreide übrig bleiben, und das wird auf dem Weltmarkt fehlen“, so der Experte. Die Folgen: steigende Lebensmittelpreise und Hungersnöte.