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Bedrohliche Lage in der UkraineRussen stehen vor Pokrowsk – Zivilisten kämpfen ums Überleben

Lesezeit 8 Minuten
Pokrowsk gleicht einer Geisterstadt: Von den ehemals 60.000 Einwohnern harren noch schätzungsweise 11.500 Menschen dort aus.

Pokrowsk gleicht einer Geisterstadt: Von den ehemals 60.000 Einwohnern harren noch schätzungsweise 11.500 Menschen dort aus.

Ukrainische Verteidiger stemmen sich verzweifelt gegen die russischen Soldaten, die nur noch fünf Kilometer vor Pokrowsk stehen. Trotz des dringenden Aufrufs zur Evakuierung harren weiterhin Tausende Zivilisten dort aus – und erdulden täglich Ausgangssperren. Besuch in einer vom Krieg gezeichneten Stadt.

In der Schule Nummer zwölf in Pokrowsk findet längst kein Unterricht mehr statt, schließlich sind die russischen Truppen nur noch wenige Kilometer von der ostukrainischen Stadt entfernt – und sie kommen immer näher. Die Fenster im Schulgebäude sind vernagelt, vom Universitätsgebäude daneben ist nach russischem Beschuss nicht viel mehr als eine Ruine übrig. Die Schule dient als Wasserstelle, seit vielerorts die Leitungen versiegt sind. Vor dem Gebäude können die wenigen verbliebenen Bewohner der sterbenden Stadt Trinkwasser in Flaschen und Kanister abfüllen.

Serhij ist mit seinem alten grünen Lada vorgefahren, im Kofferraum liegt neben diversen Kanistern eine Munitionskiste. Der 45-Jährige ist Soldat an der Front im Osten und hat ein paar Tage Urlaub, damit er sich um seine alte Mutter in Pokrowsk kümmern kann. „Sie will nicht weg“, sagt der Unteroffizier. Zudem bekomme sie gerade einmal umgerechnet 70 Euro Rente im Monat. „Dafür kann man woanders keine Wohnung mieten.“ Das Schicksal seiner Heimatstadt in der Region Donezk hält Serhij für besiegelt. „Definitiv“ würden die russischen Truppen in absehbarer Zeit Pokrowsk erobern, meint er.

Große Kriegsmüdigkeit

Ob die Ukraine den Krieg zu verlieren drohe? „Sie sehen ja selbst, was passiert“, antwortet Serhij ausweichend, während das Wasser in seine Kanister sprudelt. Die Lage an der Front sei „sehr schlecht, und sie wird immer schlechter. Uns gehen die Soldaten aus und wir haben fast keine Munition mehr.“ Verwundete und Gefallene könnten mangels Rekruten nicht mehr ersetzt werden.

„Die Leute an der Front sind so müde, ich kann das gar nicht mit Worten beschreiben“, sagt Serhij. Er sei inzwischen für Verhandlungen mit Russland. „Hauptsache, der Krieg endet.“ Dabei halte er es zur Not auch für eine Option, besetzte Gebiete an die Russen abzutreten. „Andernfalls werden sie noch mehr Städte zerstören.“ Darauf angesprochen, ob die vielen Opfer dann nicht umsonst gewesen wären, sagt er: „Das ist eine philosophische Frage. Jeder will nur Frieden.“

Wie kriegsmüde die Ukrainerinnen und Ukrainer sind, darauf deutet eine im vergangenen Monat veröffentlichte Umfrage des US-Instituts Gallup hin: Erstmals sagt darin eine Mehrheit (52 Prozent), die Ukraine sollte über ein Ende des Krieges so bald wie möglich verhandeln. Nur noch 38 Prozent sprechen sich dafür aus, bis zu einem Sieg weiterzukämpfen. Unmittelbar nach dem russischen Überfall im Februar 2022 sind dafür noch 73 Prozent gewesen. Lediglich 22 Prozent haben damals Verhandlungen mit Moskau gewollt.

„Das ist in der Tat die schwierigste Situation in den fast drei Jahren des Krieges“, sagte kürzlich der Kommandeur der dritten Sturmbrigade, Andrij Bilezkyj, der Zeitung „Ukrainska Prawda“. „In gewisser Weise würde ich sie sogar für schwieriger halten als im Frühjahr 2022.“

Wer es sich leisten kann, ist weg

Nirgendwo sind die ukrainischen Truppen so sehr unter Druck wie an der Front in der Region Donezk. Auf Pokrowsk rücken die russischen Truppen von Südosten aus langsam, aber anscheinend unaufhaltbar vor. 60.000 Einwohner hatte die Industrie- und Bergbaustadt vor dem Krieg. Im vergangenen September, als die Behörden zum Verlassen der Stadt aufriefen und in großem Maßstab Evakuierungen mit Bussen organisierten, waren es noch 17.000.

Inzwischen sind die russischen Truppen noch mal deutlich näher gerückt, evakuiert wird nur noch in Einzelfällen. Die allermeisten derjenigen, die gehen wollten – und die es sich leisten konnten –, sind weg. Nach Angaben der örtlichen Militärverwaltung harren nur noch 11.500 Menschen in der vom Krieg gezeichneten Stadt aus, in der eine 20-stündige Ausgangssperre gilt: Zwischen 15 Uhr und 11 Uhr morgens darf offiziell niemand auf die Straße. Ständig sind Explosionen zu hören. Wenn die ukrainische Artillerie aus der Nähe feuert, geht der Knall durch Mark und Bein. Die russischen Truppen sind so nah, dass ihre ferngesteuerten Drohnen Ziele in der Stadt angreifen können.

Zwischen den weitgehend leer stehenden Plattenbauten suchen streunende Hunde und Katzen nach Futter. „Viele Haustiere wurden von ihren Besitzern zurückgelassen“, sagt Julia (35). „Allein in unserem Hof sind fünf Hunde, die wir füttern. Wir haben Angst, dass sie ansonsten vor Hunger Menschen angreifen.“ In ihrem Wohnblock lebten nur noch zwei, drei andere Familien.

Julia sagt, ihr Mann sei im nahen Kohlebergwerk beschäftigt, einem der letzten Arbeitgeber in der Gegend. Sie hätten nicht vor, Pokrowsk zu verlassen, weil sie sich das finanziell gar nicht leisten könnten. Sie glaubt, dass manche derjenigen, die geflohen seien, inzwischen zurückkämen. „Sie haben dort draußen kein Geld und keine Jobs. Hier gibt es auch keine Arbeit, aber hier können sie zumindest in ihren Wohnungen leben.“

Julias Wohnblock ist noch bewohnbar. Viele andere Gebäude in Pokrowsk wurden bei Artillerie- und Raketenbeschuss zerstört oder beschädigt. Die Brücken über die Schienen in dem wichtigen Verkehrsknotenpunkt sind kollabiert. Von den Oberleitungen hängen die Drähte herab. Der Bahnhof ist geschlossen, vor dem Gebäude liegt ein einzelner Obdachloser, der sich mit Decken gegen die Eiseskälte zu schützen versucht. Aus Schornsteinen an den Fabriken steigt kein Rauch mehr auf. Die meisten Geschäfte sind zu. Strom, Heizung und Wasser gibt es – wenn überhaupt – nur unregelmäßig.

Allerdings kann man in der Stadt auch Lebenszeichen beobachten: Vor einem Haus trocknet Wäsche auf einer Leine. Vereinzelt sind auf den Straßen Fußgänger, Fahrräder und Autos unterwegs. Vor dem geschlossenen Friseursalon hängt ein Zettel mit einer Handynummer, dort steht: „Wir arbeiten.“ Wer sich die Haare schneiden lassen möchte, solle kurz bei Friseurin Tatjana durchklingeln, dann werde geöffnet.

Die Corleone-Pizzeria ist ausgebombt, die Konkurrenz von City Pizza operiert weiterhin. In dem Restaurant, das halbwegs geschützt im Souterrain liegt, kommt zwar kein Wasser mehr aus dem Hahn, das Internet funktioniert dank Elon Musks Starlink aber noch. Einige Lebensmittelgeschäfte sind noch offen, ebenso ein Handyladen. Die Müllcontainer sind überfüllt, aber die Straßen werden noch gefegt – zum Beispiel von Anna. „Ich muss ja irgendwie Geld verdienen“, sagt die 52-Jährige, die eine orangefarbene Warnweste trägt. „Ich habe meine Wohnung hier und will nicht weg.“

Angst vor möglichen Konsequenzen

In der orthodoxen Kirche im Stadtzentrum findet gerade ein Gottesdienst statt, rund ein Dutzend Gläubige sind gekommen, bei den meisten von ihnen handelt es sich um alte Frauen. Wie viele andere Menschen in Pokrowsk will auch der Priester nicht mit ausländischen Reportern reden. Noch vor einem Vierteljahr war diese Zurückhaltung unter den Bewohnern deutlich weniger spürbar.

Womöglich liegt sie in der Angst vor möglichen Konsequenzen begründet, sollten hier bald neue Machtverhältnisse herrschen. Den russischen Besatzern werden schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Andererseits gibt es auch unter den Ukrainern Russland-Sympathisanten. Sie werden in der Ukraine abfällig als „Wartende“ bezeichnet – als Menschen also, die nicht fliehen, weil sie lieber unter Moskaus Herrschaft leben wollen.

Ganz in der Nähe der Kirche liegt der zentrale Platz von Pokrowsk, auf dem so gut wie nichts los ist. Aleksander (71) und Swetlana (56) sind von ihrem Häuschen am Stadtrand mit ihren alten Fahrrädern hierhin geradelt, um unter freiem Himmel die magere Ausbeute aus ihrem Garten feilzubieten. Auf einem ausgemusterten Plastiksack haben die Eheleute zwei Gläser selbst gemachte Marmelade, eine kleine Tüte mit Kürbisstücken und ein paar Beeren ausgebreitet. Gut läuft das Geschäft nicht.

„Wir haben heute noch nichts verkauft“, sagt Swetlana, die dennoch guter Dinge ist. Sie hat sich herausgeputzt und ihre Fingernägel mit Glitzerfarbe lackiert. „Bei mir zu Hause sehen mich nur Ziegen, Hühner und Hunde“, sagt sie lachend. „Wenn ich in die Stadt gehe, muss ich mich doch für die Menschen schön machen.“ Aleksander will keine Prognose wagen, ob die russischen Truppen Pokrowsk einnehmen. „Das weiß nur Gott.“ Er sei jedenfalls für Verhandlungen zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Kremlchef Wladimir Putin. „Die Nation leidet. Die Menschen leiden.“

Swetlana glaubt nicht daran, dass Verhandlungen Erfolg haben könnten. „Putin ist ein Idiot, und unser Präsident ist ein Idiot“, meint sie. Inzwischen hat sich Walentina zu dem Ehepaar gesellt, man kennt sich. Die resolute 65-Jährige trägt zwei große leere Flaschen in ihren Händen, die sie an der Schule Nummer zwölf auffüllen lassen möchte. „Unsere Jungs werden die Russen niemals in die Stadt lassen“, sagt Walentina mit Blick auf die Soldaten. „Wir werden uns mit Schaufeln und Äxten und Macheten verteidigen. Das ist unsere Stadt. Sie wird niemals unter russische Kontrolle kommen.“

Dass Walentinas Zweckoptimismus längst nicht überall geteilt wird, lässt sich westlich von Pokrowsk beobachten. Wenige Kilometer hinter der Stadt werden Schützengräben ausgehoben – für eine neue Verteidigungslinie, sollte Pokrowsk fallen. Zu den Soldaten, die das Gebiet schützen sollen, gehört ein 38-Jähriger, der sich mit seinem Kampfnamen Morpetsch (Marineinfanterist) vorstellt. Er glaubt nicht an Verhandlungen. „Putins Ziel ist es, die Ukraine zu besetzen. Das wird er nie aufgeben.“

Morpetsch sagt, die russischen Truppen versuchten mit aller Gewalt, Pokrowsk in die Zange zu nehmen. Ohne Rücksicht auf eigene Verluste würden sie gegen die ukrainischen Stellungen anrennen. „Wenn sie vorrücken, müssen sie dabei über die eigenen Leichen gehen. Ganze Wellen von Russen sterben.“ Wahrscheinlich werde es ihnen am Ende gelingen, Pokrowsk zu erobern. „Aber die ukrainische Armee wird die Stadt nicht kampflos aufgeben.“

Friseurin Tatjana befürchtet ebenfalls, dass ihre Heimatstadt an die Russen fallen wird – oder das, was davon dann noch übrig sein wird. „Die Stadt wird bei den Kämpfen zerstört werden“, glaubt die 63-Jährige. „Wir wissen nicht, was uns erwartet. Wir haben einfach nur Angst.“

Mitarbeit: Andrii Kolesnyk