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Mit hohem Fieber über die GrenzeWie ein Liebespaar sechs Tage aus der Ukraine floh

Lesezeit 7 Minuten
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Mariia und Andre Groten (beide 31 Jahre alt) in Kiew. 

Kiew/Münster„Man kann sich das einfach nicht vorstellen, auf dem Flurboden zu sitzen und Angst zu haben, dass gleich alles um dich herum in die Luft fliegt. Das versteht man kognitiv, aber nicht emotional. Meine Frau und ich haben schon gesagt: Wir haben in einem halben Jahr Ehe so viel erlebt wie andere Leute in einem ganzen gemeinsamen Leben.“Als Andre Groten um kurz vor sechs Uhr morgens den Anruf entgegennimmt weiß er noch nichts von dem Einmarsch der russischen Armee. „Packt eure Sachen“, sagt seine Stiefmutter. „Der Krieg ist da.“ Wenige Stunden später verlassen Andre und seine Frau Mariia ihr Wohnung und fliehen, raus aus Kiew, in Richtung Deutschland, zu Andres Familie. Zwei Stunden und 45 Minuten dauert normalerweise ein Flug von Kiew nach Düsseldorf. Es werden sechs Tage verstreichen, bis Andre und Mariia endlich vor dem Haus seiner Mutter im Münsterland stehen.

An einem Julitag 2020 in Kiew trifft Andre Mariia zum ersten Mal. Eigentlich lebt Andre Groten in Hamburg, doch seinen Job dort hat er kurz zuvor aufgegeben. Bevor er sich nach einer neuen Arbeitsstelle umsieht, will er für ein paar Wochen raus aus Deutschland. Also buchte er einen Flug nach Kiew. Mariia begleitet ihn, während er von einem Kiewer Museum ins andere schlendert, eine junge Ukrainerin mit schulterlangen braunen Haaren und zarten Lachfalten um den Augen.

IT-Berater in Kiew

Die beiden sind gleich alt und gleich spontan. Sie interessiert sich für Deutschland, er sich für die ukrainische Kultur. „Mariia war von Anfang an sehr offen und interessiert“, sagt Andre. „Es hat direkt gefunkt, wir hatten einfach einen Draht zueinander.“

Andre und Mariia treffen sich so oft wie möglich. Kurz darauf nimmt er einen neuen Job als IT-Berater an, arbeitet immer so lange von Kiew aus, wie es die visumsfreie Zeit zulässt. Am 16. September 2021 heiraten sie in Münster, André lagert seine Möbel ein und zieht nach Kiew. Endgültig. Zumindest war das der Plan.

Drohgebärden von Putin sind sie doch schon gewöhnt

Anfang Januar 2022. Russland zieht Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammen, Panzer blockieren die Straßen, das Militär baut Feldlazarette auf. Andre verfolgt nun deutlich regelmäßiger die Nachrichten, er versucht, sich nicht verrückt zu machen. German Angst eben, sagt er. Seine neue ukrainische Familie reagiert entspannter.

Drohgebärden von Putin sind sie gewohnt, schließlich herrscht in der Ostukraine seit acht Jahren Krieg. Während der militärischen Übungen in Belarus fahren Andre und Mariia trotzdem weg von der Hauptstadt, zu Mariias Familie in der Dnipropetrowsk-Region, aufs Land. Nur vorsichtshalber. Doch die Übungen enden und Kiew steht noch.

Auswärtiges Amt warnt: Ukraine schnell verlassen

Andre und Mariia kehren zurück und beschließen zu bleiben. Auch, als das Auswärtige Amt alle Deutschen warnt, so schnell wie möglich die Ukraine zu verlassen. Auch, als Waldimir Putin in einer TV-Ansprache die ukrainischen Bezirke Donezk und Lugansk zu unabhängigen Staaten erklärt. Wenn der Krieg kommt, denken sie, dann im Osten, so wie 2014 im Donbass, so wie 2008 in Georgien, als Russland dort ebenfalls zwei Regionen unabhängig erklärte und einmarschierte.

„Wir hätten alles aufgegeben, wenn wir nach Deutschland gereist wären“, sagt Andre. „Wir wären ohne Perspektiven und mit leeren Taschen angekommen. In der Ukraine haben wir unsere Wohnung, unser Leben, die Familie meiner Frau.“

Keine Flüge, keine Züge gehen aus Kiew raus

Auch als Andres Stiefmutter an diesem Donnerstagmorgen, dem Tag eins des Krieges auflegt, packen sie nicht direkt ihre Sachen. Sie nehmen ein Taxi und fahren zu Mariias Büro, um ihren Arbeitslaptop zu holen. „Total irrational“, sagt Andre. „Aber irgendwie auch menschlich.“

Andre sucht nach Flügen, doch der eine Flughafen von Kiew liegt in Schutt und Asche, vom anderen hebt kein Flugzeug mehr ab. Sie fahren zum Hauptbahnhof, wollen in einen Zug nach Lwiw steigen, doch Polizei und Militär haben den Bahnhof abgeriegelt, zu groß war der Andrang. Mit je einem Rucksack auf dem Rücken verlassen Andre und Mariia Kiew, sie suchen Unterschlupf bei Mariias Zwillingsschwester, in einem westlichen Vorort der Hauptstadt.

Lärm ukrainischer Flugabwehrraketen

Zwei Tage bleiben sie dort. Andre hört die russischen Flieger über den Himmel krachen, die Flugabwehrraketen der ukrainischen Armee, die Einschläge in Kiew und kann nicht auseinanderhalten, welcher Lärm wozu gehört. Bei jedem Geräusch zucken sie zusammen. Andre setzt sich mit seiner Nichte Mika auf den Flur, während Mariias Verwandte die Fenster mit Tesafilm-Rollen abkleben und alle Spiegel abhängen. Damit keine Splitter durch das Haus fliegen, wenn die Bomben kommen.

Achteineinhalb Stunden Fahrt für 200 Kilometer

Nach zwei Tagen des Wartens bietet sich Mariia und Andre die erste Chance zur Flucht: Eine befreundete Familie und die von Mariias Schwester können sich zwei Autos organisieren. Sie quetschen sich zu zwölft hinein. Mariia steigt in das eine Auto, Andre sitzt auf der Rückbank des anderen, die Erwachsenen nehmen die Kinder auf den Schoß und fahren los. Raus aus Kiew, Richtung Süden. Für 200 Kilometer brauchen sie achteinhalb Stunden. Sie stecken auf vollgestopften Straßen fest, passieren ukrainische Patrouillen, bis sie am Abend in einer Kleinstadt mit 12.000 Einwohnern ankommen. Den Namen der Stadt will Andre nicht sagen, aus Sicherheitsgründen, schließlich lebt dort noch eine befreundete Familie.

Diese Familie bietet den zwölf Geflüchteten ein gemeinsames Zimmer und Essen an. Andre legt sich mit Mariia unter eine Decke auf den Boden und schläft tief ein, zum ersten Mal seit dem Anruf seiner Stiefmutter.

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Andre und Mariia (links mit ihrer Nichte Mika) schliefen mit zehn anderen Personen in einem Zimmer. 

Am nächsten Morgen trennt sich die Gruppe. Eines der Kinder ist krank, noch in der Nacht brachten die Eltern es ins Krankenhaus. Ein Bekannter bringt Mariia und Andre bis nach Winnyzia, eine Stadt zweieinhalb Stunden weiter südlich, wo die beiden in ein Hotel einchecken. Sie haben Kontakt zu einer Bekannten aufgenommen: Am nächsten Tag würde sie das Paar vor dem Hotel abholen und mitnehmen, ein Stück weit in Richtung Grenze.

Mariia läuft mit Fieber und Kopfschmerzen über die Grenze

Tag vier der Flucht. Mariia erwacht mit Fieber und Kopfschmerzen, in der Nacht musste sie sich mehrmals übergeben. Mehrere Tage später wird ihr Corona-Test in Deutschland positiv ausfallen, doch darüber können sich die beiden noch keine Gedanken machen. Sie müssen weiter, raus aus der Ukraine, am besten heute noch.

Um sechs Uhr morgens holt eine Bekannte des Paares die beiden vor dem Hotel ab, um zehn Uhr erreichen sie Kamjanez-Podilskyi, eine Stadt 60 Kilometer von der moldawischen Grenze entfernt. Die Bekannte bleibt vorerst dort, Andre und Mariia fahren per Anhalter weiter nach Süden, drei Stunden stehen sie kurz hinter der Stadt in einer Militärpatrouille, dann bringt sie ein Taxi in Richtung Moldawien. Die letzten eineinhalb Kilometer zur Grenze laufen sie. Vier Tage nach dem Beginn ihrer Flucht verlassen Mariia und Andre die Ukraine.

Mann mit Bulli hilft sofort

Kurz hinter dem Grenzübergang steht ein Mann neben einem Bulli. „Wollt ihr weg?“ „Ja, auf jeden Fall.“ „Ich fahre nach Rumänien. Wo wollt ihr denn hin?“ „Nach Deutschland.“ „Ich habe einen Kollegen, der fährt nach Deutschland. Ich bringe euch zu ihm.“

300 Euro zahlt Andre dem Kollegen des Mannes, dann setzen sie sich in einen weiteren vollbesetzten Bulli und fahren raus aus Moldawien, warten sechs Stunden an der rumänischen Grenze, schlängeln sich durch die Serpentinen von Transilvanien. Mariias Fieber steigt, immer wieder muss sie sich übergeben. Dann, am Tag sechs ihrer Flucht aus Kiew, setzt der Bulli-Fahrer die beiden im Münsterland ab, direkt vor der Haustür von Andres Mutter.

Mariias Familie blieb zurück in der Ukraine

Dort hat sich Andre in eines der Zimmer zurückgezogen, um seine Geschichte zu erzählen. Wenn er spricht, scheint es manchmal, als könne er selbst noch nicht ganz glauben, was ihm da passiert ist. Den Tag über verfolgt Andre Nachrichten aus der Ukraine, guckt auf die Fotos von Massengräbern, von toten Zivilisten am Straßenrand. Bilder, die ihn zutiefst anwidern, von denen er trotzdem nicht loskommt. Andre liest Umfragen, laut denen 60 Prozent der Menschen in Russland den Krieg unterstützen, vor dem er geflohen ist. Er liest Berichte über hohe Strafen, die jeden Menschen dort erwarten, der den Krieg einen Krieg nennt.

Mariia ist im Nebenraum, sie liegt immer noch hustend im Bett. Wie so viele Ukrainer tut sie sich mit ihrem neuen Status als Geflüchtete schwer. Sie will keine gebrauchten Pullis tragen, sagt Andre, sie will ihre eigenen Kleider aus Kiew, sie will zurück.

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Aber Andre und Mariia werden erstmal in Deutschland bleiben müssen. Zunächst nach Bremen ziehen. Ein Kollege von Andre bot ihnen eine halbmöblierte Eigentumswohnung an, in der sie vorerst leben können. Andres Arbeitgeber weiß schon von dem Umzug, Mariia arbeitet für eine internationale Firma und hofft, an einen deutschen Standort versetzt zu werden.

Mariias Zwillingsschwester, Schwager, Patenkind Mika und die Eltern sind in der Ukraine geblieben. Ihr Vater, 60 Jahre alt, schläft tagsüber mit einem Gewehr neben dem Bett, nachts steht er Wache vor dem lokalen Krankenhaus. Er hat sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet.