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Umdeutung christlicher WerteRussland und der haarsträubende Todeskult der orthodoxen Kirche

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Patriarch Kiril mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Die orthodoxe Kirche und der russische Staat deuten zahlreiche christliche Werte im Ukraine-Krieg um.

Patriarch Kiril mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Die orthodoxe Kirche und der russische Staat deuten zahlreiche christliche Werte im Ukraine-Krieg um.

Vor dem Hintergrund des Angriffskrieges gegen die Ukraine deuten der Kreml und die orthodoxe Kirche religiöse Gebote um.

Als Wladimir Putin vor einem knappen Jahr 17 Mütter von Soldaten in seiner Residenz Nowo-Ogarjewo empfing, die in der Ukraine kämpfen und dort zum Teil ums Leben kamen, spendete er ihnen auf verstörende Art und Weise Trost.

Als die Mutter Nina Pschenitschkina dem Präsidenten ein Bild ihres gefallenen Sohnes zeigte, antwortete Putin: „Wir alle werden diese Welt eines Tages verlassen. Das ist unumgänglich. Die Frage ist nur, wie wir gelebt haben. Wer seinem Leben einen Sinn gegeben hat und wer nicht, bleibt aber oft unklar. Und wie verlassen wir diese Welt? Wegen Wodka oder etwas anderem? Und egal, ob wir ein sinnvolles Leben geführt haben oder nicht, gehen wir oft unbemerkt. Aber Ihr Sohn hat gelebt. Und sein Ziel hat er erreicht. Das bedeutet, dass er dieses Leben nicht umsonst verlassen hat.“

Wladimir Putins krudes Verständnis des russischen Angriffskriegs in der Ukraine

Dass es für Pschenitschkinas Sohn auch die Option gegeben hätte, ein erfülltes Leben ohne Überkonsum von Wodka und ohne frühen Tod auf dem Schlachtfeld zu führen, erwähnte der Kremlchef nicht. In den Kommentarspalten deutscher Zeitungen wird Putins eigenartige Seelenmassage für die Soldatenmütter seither immer wieder als weiterer Beleg für sein krudes Verständnis von den Kampfhandlungen in der Ukraine angeführt.

Doch was der Staatschef der Mutter sagte, denkt er nicht erst seit dem 24. Februar 2022. Vielmehr offenbaren die Aussagen eine lang gehegte tiefe Überzeugung des russischen Präsidenten, die er schon vor knapp zehn Jahren öffentlich zum Ausdruck brachte: Als er im April 2014 bei der jährlichen Fernsehfragestunde „Der direkte Draht zu Wladimir Putin“ von einer Anruferin gefragt wurde, was seiner Meinung nach die Russen ausmache, wo er ihre Stärken und Schwächen sehe, erinnerte Putin an das russische Sprichwort „Sogar der Tod ist ein Segen für die Welt“.

Der Sinnspruch stammt aus dem vorrevolutionären Russland und soll unter anderem deutlich machen, dass jeder als Held in Erinnerung bleibt, der sein Leben für die Familie und Freunde, die Gemeinschaft und das Vaterland gegeben hat. „Darin liegen die tiefen Wurzeln unseres Patriotismus“, sagte Putin. „Natürlich sind wir weniger pragmatisch, weniger abwägend als die Menschen anderer Nationen, aber wir sind in der Seele breiter aufgestellt. Vielleicht spiegelt sich darin die Größe unseres Landes wider, seine immensen Ausmaße. Wir sind im Herzen großzügiger.“

Russisch-Orthodoxe Kirche: Patriach Kiril I. und seine Umdeutung religiöser Gebote

Nach Auffassung Putins besitzen die Russen also einen besonderen Edelmut, der sogar über den eigenen Tod hinausreicht und sie von anderen Nationen unterscheidet. Was der russische Staatsführer in pathetische Worte packt, ist nüchtern betrachtet allerdings eine Verherrlichung des Todes. Und die nimmt in Russland inzwischen bedenkliche Züge an, weil sie von der russisch-orthodoxen Kirche zusätzlich religiös aufgeladen wird.

Nach der Teilmobilmachung im September vergangenen Jahres bestärkte die Kirche die Gläubigen in der Überzeugung, dass der Tod auf dem Schlachtfeld „alle Sünden, die ein Mensch begangen hat, reinwäscht“ und der direkteste Weg zum Himmel sei. Der Glaube, die Befolgung der Gebote und die guten Taten waren plötzlich nicht mehr notwendige Voraussetzungen, um ins Paradies zu gelangen. Die Religion reduzierte sich auf eine einzige Heilsempfehlung – die Selbstaufopferung.

Nach der Lehre von Patriarch Kirill I. hat die sogenannte Spezialoperation in der Ukraine „keine physische, sondern eine metaphysische Bedeutung“, und wenn Christus sagt: „Liebt eure Feinde, segnet, die euch verfluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, welche euch beleidigen und verfolgen“ (Matthäus 5:44), dann wird dieses Gebot von Kirill inzwischen uminterpretiert: „Vergebung ohne Gerechtigkeit ist Kapitulation und Schwäche.“ Den Gläubigen wird mit einem Mal eine vollkommen andere Religion gepredigt, die nicht so sehr den Geboten Gottes, sondern mehr den Edikten des Staates folgt.

So hat Kirill zum Völkerrecht inzwischen seine ganz eigene Meinung: „Es gibt Institutionen, die das Recht haben, Gewalt anzuwenden und (...) andere Länder zu zwingen, wenn sie sie als Bedrohung ansehen, dafür zu sorgen, dass diese Bedrohung nicht existiert.“

Diese Position widerspricht nicht nur dem Evangelium, sondern auch den Grundsätzen der russisch-orthodoxen Soziallehre, die unter Federführung Kirills im Jahr 2000 verfasst und veröffentlicht wurde.

Patriach Kiril I.: Krieg als Mittel der Verteidigung

Denn nach dieser Soziallehre sind Kriege nur legitim, wenn sie der Verteidigung dienen. „Der Krieg ist das Böse“, hält das Dokument in seinem achten Kapitel „Krieg und Frieden“ grundsätzlich fest: „Der Grund für ihn, wie für das Böse im Menschen im Allgemeinen, ist der sündhafte Missbrauch der gottgegebenen Freiheit. Obwohl die Kirche den Krieg als Übel anerkennt, verbietet sie ihren Glaubensbrüdern und -schwestern dennoch nicht, sich an Feindseligkeiten zu beteiligen, wenn es darum geht, den Nächsten zu schützen und die mit Füßen getretene Gerechtigkeit wiederherzustellen. Dann wird der Krieg zwar als unerwünscht, aber als notwendiges Mittel betrachtet.“

An anderer Stelle heißt es in der Schrift: „Der Christ, der die Gebote des Gewissens befolgt, ist nicht verpflichtet, dem zur schweren Sünde nötigenden staatlichen Befehl nachzukommen.“ Wenn der Krieg „das Böse“ ist und nur statthaft, um „den Nächsten zu schützen“, kann man diesen Passus im Augenblick als Aufforderung zur Kriegsdienstverweigerung auffassen.

Doch die russisch-orthodoxe Kirche ordnet sich dem Staat vollkommen unter und geht dabei inzwischen so weit, die Fundamente des christlichen Glaubens in vollkommen gegenteiligem Sinn zu interpretieren. Trotz des fünften Gebots der Bibel „Du sollst nicht töten!“ rief etwa Metropolit Leonid von Klin im Mai auf Telegram zu Tötungen auf: „Wenn der Terrorismus auf staatlicher Ebene verübt wird, müssen alle, die (in der Ukraine, Anm. d. Red.) an der Entscheidungsfindung beteiligt sind, eliminiert werden.“

Haarsträubende Aussagen russischer Geistlicher

Und wer beim Töten selbst ums Leben kommt, dem gratuliert die Kirche geradezu vorab: „Es gibt keine Freude im irdischen Leben“, sagte Metropolit Mitrofan von Murmansk Anfang Oktober in einem Youtube-Video. „Wenn sich dir eine günstige Gelegenheit zum Sterben bietet, zögere nicht, diesen Schritt zu tun, denn du weißt nicht, ob sich dir eine solche Gelegenheit noch einmal bieten wird.“

Die wenigen Geistlichen, für die solche haarsträubenden Aussagen Häresie darstellen und die deswegen dagegen aufbegehren, müssen mit harten Strafen rechnen. Erzbischof Viktor von Südrussland wurde etwa von einem zivilen Gericht zu einer Geldstrafe von 40?000 Rubel (400 Euro) verurteilt, weil er die russische Armee in seinen Gebeten angeblich herabgewürdigt habe. Eine Gottesdienstbesucherin hatte ihn bei den Behörden angezeigt.

„Wenn der Terrorismus auf staatlicher Ebene verübt wird, müssen alle, die (in der Ukraine, Anm. d. Red.) an der Entscheidungsfindung beteiligt sind, eliminiert werden.“
Metropolit Leonid von Klin

Die Kirche sprang ihm nicht bei, was wenig erstaunlich ist. Denn auf seiner Website eshatologia.org bezichtigt der 86-Jährige das Moskauer Patriarchat mit deutlichen Worten der Täterschaft für das in der Ukraine geschehene Unrecht: „Es scheint, dass der Teufel bereits begonnen hat, eine neue Religion und einen neuen Kriegskult zu begründen, der ein integraler Bestandteil der neuen antichristlichen Ideologie sein wird“, schrieb er im September.

Der Theologe Sergej Sizow von der Universität Omsk fasst die Haltung der Kirche so zusammen: „Nur die Handlanger einer russischen Niederlage rufen in unserem Land: ‚Nein zum Krieg!‘ Das ist eine Fraktion von Landesverrätern und Feiglingen.“

Hassprediger Dugin denkt über Liquidierung der Ukraine nach

Die Haltung hat allerdings einen Haken: So sehr die Kirchenleitung das Gebot eines schnell herbeigeführten Todes predigt, so bewahrt sie gleichzeitig alle ihre Geistlichen, Amtsträger und sogar Seminaristen vor der Mobilisierung. Die Predigt vom Tod braucht schließlich lebendige Darsteller.

Einen theoretischen Unterbau für den russischen Todeskult liefert der rechtsnationalistische Ideologe Alexander Dugin, dessen Tochter Darja im vergangenen Jahr bei einem Bombenanschlag ums Leben kam, der ihm gegolten haben könnte. Der 61-jährige Honorarprofessor an den Universitäten Astana, Teheran und Schanghai, der schon in den Nullerjahren über die Liquidierung der Ukraine nachdachte, gilt als antiwestlicher Hassprediger, Ideengeber für die Neuen Rechten in Russland und Kämpfer für die Idee einer eurasischen Supermacht als Gegenpol zum dekadenten Westen.

Dugin besucht manchmal Gottesdienste in der Erzengel-Michael-Kirche im Dorf Michailowskaja Sloboda bei Moskau. Die Kirche bietet ihm hin und wieder auch eine Bühne – bei ihrem „Weltkonzil des russischen Volkes“ hielt er etwa im vergangenen Jahr eine Rede, in der er die Endzeit nahen sah. Und auch der Todeskult hat bei ihm einen festen Platz: „Wir finden den Dreh- und Angelpunkt nur im Tod. Das ist der einzige Weg, um Religion, Kultur, Kunst und Politik zu begründen. Das Leben ist zu wechselhaft, um ein Drehpunkt zu sein“, dozierte er auf Telegram.

Dugins dubioser Bezug zum Christentum

Allein schon diese Aussage belegt Dugins dubiosen Bezug zum Christentum, spricht dieses dem Leben doch einen entscheidenden Sinn zu. Statt der christlichen Lehre zu entsprechen, besteht seine Weltanschauung eher aus einer okkultistisch-esoterischen Mischung verschiedener religiöser Traditionen, stark durchsetzt von Verschwörungstheorien. Trotzdem werden Dugins Ansichten auch bei der russisch-orthodoxen Hauptkirche zunehmend populär.

So steht die russische Zivilgesellschaft auf immer verlorenem Posten bei dem Versuch, den grassierenden Todeskult abzuwehren. Die russisch-orthodoxe Kirche hat sie nicht mehr auf ihrer Seite.