Im Gazastreifen bahnt sich eine Katastrophe an, warnt Unicef-Geschäftsführer Christian Schneider.
Interview mit Christian SchneiderKölner Unicef-Chef: „2023 war das düsterste Jahr für Kinder weltweit“
Herr Schneider, ein Gespräch mit dem Geschäftsführer von Unicef Deutschland muss angesichts der schlimmen Bilder, die uns täglich aus dem Gazastreifen erreichen, zwingend mit der Frage nach der Situation der Kinder in dieser Region beginnen.
Christian Schneider: Das ist richtig. Sie ist katastrophal und braucht ein Hauptaugenmerk von Unicef. Ich möchte aber mit Blick auf die mehr als 460 Millionen Kinder, die sich weltweit in Kriegs- und Krisensituationen oder auf der Flucht befinden, eines vorausschicken: Ich bin seit 25 Jahren bei Unicef und muss leider sagen, dass 2023 das düsterste und entsetzlichste Jahr für Kinder weltweit war. So eine große Zahl gab es sicher seit der Jahrtausendwende nicht. Ich denke über Gaza hinaus an die Ukraine, an Syrien, Afghanistan und den Jemen, aber auch an Kinder in Ländern wie Burkina Faso und Sudan.
Im Gazastreifen ist die übergroße Mehrheit der Bevölkerung auf der Flucht. Was macht das mit den Kindern?
Die Situation in Gaza ist äußerst schwierig. Die Gesundheitseinrichtungen sind zerstört, die Schulen sind beschädigt, die Unterkünfte überfüllt, die Wasserversorgung völlig unzureichend. Es gibt kaum Medikamente. In einer solchen Lage breiten sich Infektionskrankheiten sehr schnell aus. Und wir reden über etwa eine Million Kinder.
Wie lange kann das noch gut gehen?
Für die Kinder, die schon geschwächt sind, weil sie etliche Wochen ohne ausreichende Nahrung auskommen mussten, sind solche Krankheiten lebensgefährlich. Hinzu kommt: Es gibt für sie keine sicheren Orte mehr. Sie haben keine Kindheit und sind der ständigen Gefahr ausgesetzt, durch einen Raketeneinschlag oder Kampfhandlungen getötet oder schwer verletzt zu werden.
Diese ständige Angst, das ständige Fliehen an neue, aber ebenfalls unsichere Orte, hat auch psychologische Folgen. Die Kinder haben erste Anzeichen von Traumata, sind abwesend, reagieren nicht mehr. Das berichten unsere Kolleginnen und Kollegen vor Ort. Was in Gaza geschieht, steht auch symbolisch dafür, dass der Respekt davor, dass Kinder überall und in jeder Situation geschützt werden müssen, in vielen Regionen und Ländern unter die Räder gekommen ist. Es sind immer die Kinder, die unter Situationen, die sie nicht zu verantworten haben, am meisten leiden. Und sie haben am meisten mit den Folgen zu kämpfen.
Unicef ist also weiterhin in Gaza vertreten.
Ja. Wir sind dort seit vielen Jahren für Kinder im Einsatz und haben den Gazastreifen nicht verlassen. Mittlerweile können wir von unserem Regionalbüro in Amman und aus Ägypten regelmäßig Hilfsgüter mit Lkw in den Gazastreifen transportieren. Aber die Hilfe unter fortdauernden Angriffen auch zu den Kindern zu bringen, ist schwierig. Auch unser Team arbeitet unter Lebensgefahr. Zum Glück haben wir bisher noch keine Verluste zu beklagen. Das kann aber jederzeit passieren. Der Großteil unserer Mitarbeitenden befindet sich selbst in dieser katastrophalen Situation.
Angesichts dieser Lage und anderer weltweiter Krisen scheint die Ukraine aus dem Blickfeld zu geraten. Teilen Sie diese Befürchtung?
Wir haben vor dem zweiten Kriegswinter versucht, noch einmal die Aufmerksamkeit auf die humanitäre Lage zu lenken. Es gibt weiterhin eine große Nähe der deutschen Bevölkerung zur Ukraine, auch wenn die politische und militärische Entwicklung im Vordergrund steht. Ich war Anfang November persönlich in der Ostukraine, unter anderem in Charkiw und in einigen Orten, die etwa 50 Kilometer vom Frontverlauf entfernt liegen.
Wie ist Ihr Eindruck?
Wir müssen nach wie vor sieben Millionen Kinder mit humanitärer Hilfe versorgen, zum Teil auch in den umkämpften Städten, die nur schwer zu erreichen sind. Es ist mir wichtig zu betonen, dass kein Kind in der Ukraine von diesem Krieg verschont bleibt. Auch in Kiew oder der Westukraine, wo nicht jeden Tag Raketeneinschläge drohen. Kein Kind kann sich den Ängsten, den Verlusten in der Familie, in der Nachbarschaft oder im Freundeskreis entziehen. Die psychologischen Folgen sind immens. Wir befürchten, dass 1,5 Millionen Kinder Belastungsstörungen durch den Krieg davontragen werden. Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen haben mir viel von Angststörungen, Bettnässen und Albträumen bei den Kindern oder von Depressionen bis hin zu Suizidgedanken bei Jugendlichen berichtet. Das sind die Seiten, die man bei der Kriegsberichterstattung nie sieht.
Gab es auf Ihrer Reise denn auch ein paar Lichtblicke?
Auf jeden Fall! Ich hatte zwei Situationen, die symbolisch verdichten, was das Leben von Kindern im Krieg in der Ukraine bedeutet, aber auch Hoffnung macht. In einer Millionenstadt wie Charkiw gibt es wegen der Gefahr von Raketeneinschlägen keinen Präsenzunterricht mehr. Deshalb hat man in funktionierenden U-Bahnstationen, in denen unten die Züge fahren und oben mehrmals am Tag Luftalarm ausgelöst wird, für Kinder Klassenräume in sogenannten Metroschulen eingerichtet. Und die Kinder schaffen es, sowohl den U-Bahnlärm als auch den Alarm auszublenden, einfach Kind zu sein und zur Schule zu gehen. In einem kleinen Ort nahe der Front haben wir einen Kindergarten in einem Schutzbunker besucht, den Unicef kinderfreundlich hergerichtet hat.
Krieg bedeutet Flucht und Vertreibung. Wie bewerten Sie die EU-Entscheidungen zu einer härteren Gangart im Umgang mit Geflüchteten, die von der Bundesregierung ja mitgetragen wird?
Mein Blick richtet sich immer auf die Situation der Kinder. Wir reden in Deutschland sehr viel über Härte und Begrenzung von Zuzug. Dabei vergessen wir, dass unter den vielen Menschen, die schon hier sind und noch kommen werden und die einen berechtigen Anspruch auf Schutz haben, auch viele Kinder sind. Sie machen rund 40 Prozent der gut zwei Millionen Asylsuchenden seit 2015 und 32 Prozent der Schutzsuchenden aus der Ukraine aus. Die meisten dieser Kinder haben ein gutes Recht, hier auf Dauer zu leben, wenn sie nicht zurückkehren wollen oder können. Flucht in Deutschland hat ein junges Gesicht. Deshalb muss die Politik mehr investieren, in Bildung und Ausbildung. Darin liegt eine Chance, die wir so noch gar nicht sehen. Wir können auf diesem Weg gut ausgebildete junge Menschen gewinnen, die unsere Gesellschaft bereichern.
Christian Schneider ist der Geschäftsführer von Unicef Deutschland. Die Aufgabe übernahm er 2010. Zuvor hatte Schneider, der seit 1998 bei Unicef ist, von 2002 bis 2010 den Bereich Kommunikation und Kinderrechte geleitet. Schneider studierte Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik (M.A.) und war als Redakteur für die „Westfälischen Nachrichten“ in Münster sowie als freier Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig. Dem Einsatz gegen die Armut und für bessere Lebensbedingungen von Kindern widmete er sich zunächst beim kirchlichen Hilfswerk Adveniat in Essen, bevor er zu Unicef wechselte. Schneider ist verheiratet und hat zwei Kinder.