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Interview mit Vitali Klitschko„Schwarzer und Wagenknecht fallen auf russischen Trick rein“

Lesezeit 8 Minuten
Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew, steht in seinem Büro im Rathaus der ukrainischen Hauptstadt.

Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew, steht in seinem Büro im Rathaus der ukrainischen Hauptstadt. (Archivbild)

Kiews Bürgermeister spricht über die Entwicklung des Kriegs in der Ukraine, warum für ihn die Bundesregierung zu viel gezögert hat und was Putins Ziel ist.

Vitali Klitschko ist Deutschland für die Unterstützung der Ukraine sehr dankbar, das betont der Bürgermeister von Kiew im Interview immer wieder. Bei Waffenlieferungen handelt die Bundesregierung nach Ansicht des früheren Boxweltmeisters aber zu zögerlich. „Dafür zahlen wir den höchsten Preis“, sagt der 51-Jährige in Kiew. Auf lange Sicht hält Klitschko einen Angriff von Kremlchef Wladimir Putin auch auf Deutschland für möglich.

Herr Klitschko, hier in ihrem Büro liegt ein Kampfhelm mit einem Einschussloch an der Stirnseite. Was hat es damit auf sich?

Klitschko: Wir hatten Helme bekommen und sie den Soldaten übergeben. Der Soldat, der diesen Helm von uns erhalten hat, ist in Bachmut im Donbass in der Ostukraine beschossen worden. Er hat überlebt, hat einen anderen Helm genommen und weitergekämpft. Der Helm ist ein gutes Beispiel dafür, wie lebenswichtig die Ausrüstung für unsere Soldaten ist.

Wegen der russischen Luftangriffe auf die kritische Infrastruktur in Kiew haben Sie im vergangenen November gewarnt, dass die Stadt mit ihren fast drei Millionen Einwohnern im schlimmsten Fall evakuiert werden müsse. Heute hat es – anders als gestern – noch keinen Luftalarm gegeben. Wir treffen uns in Ihrem Büro im Zentrum am frühen Nachmittag. Wie ist die Lage?

Die Frage nach der Sicherheit ist die Frage Nummer eins für alle Ukrainer, und heute ist es in Kiew viel sicherer als noch vor ein paar Monaten. Auch dank der deutschen Luftabwehrsysteme. Frage: Sie meinen das deutsche System Iris-T? Antwort: Das meine ich auch. Wir haben auch andere Systeme. Aber unsere Militärs sind von Iris-T begeistert. Jeder Schuss ist ein Treffer, keiner geht vorbei.

Kann man sagen, dass Iris-T Menschenleben in Kiew gerettet hat?

Tausende Leben. Iris-T ist wirklich sehr effektiv.

Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko in seinem Büro.

Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko in seinem Büro.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat seit Oktober versucht, die Ukrainer mit Raketen- und Drohnenangriffen auf die Infrastruktur in die Knie zu zwingen. Jetzt ist bald Frühling, und in Kiew gibt es Strom. Wie schlimm ist die Lage in der Hauptstadt im Winter gewesen?

Wir waren im Januar ziemlich nah dran, die Bevölkerung zur Evakuierung aufzurufen. Der schlimmste Blackout dauerte 14 Stunden. Da gab es keinen Strom, kein Wasser, keine Heizung. Glücklicherweise herrschte mildes Wetter. Aber die Situation ist sehr schwierig gewesen. Sie stehen auf und Sie können nicht duschen. Sie können die Toilette nicht spülen, Sie können nicht telefonieren, weil das Mobilfunknetz nicht funktioniert. Fernsehen, Radio, Internet funktionieren auch nicht.

Wie haben Sie es geschafft, die Infrastruktur der Stadt trotz der schweren Luftangriffe vor dem Zusammenbruch zu bewahren?

Es hat uns sehr viel Kraft und Energie gekostet, die Versorgung aufrecht zu erhalten. Die Mitarbeiter unserer kommunalen Unternehmen haben rund um die Uhr gearbeitet. Und unser Schutzheiliger, der Heilige Michael, hat unsere Stadt beschützt. Zu den sogenannten Präzisionswaffen der Russen, mit denen sie unsere Infrastruktur zerstören wollten: Sie haben unser Kraftwerk Nummer drei in der Nähe des Hauptbahnhofs angegriffen, dabei aber auch viele Wohnhäuser in der Umgebung zerstört. Viele Menschen sind ums Leben gekommen.

Wie schwer ist die Zerstörung in der Hauptstadt nach gut einem Jahr Krieg?

Unsere Stadt liegt nicht an der Front. Aber durch russische Angriffe sind hier fast 800 Gebäude zerstört worden. Mehr als 160 Zivilisten sind getötet worden, darunter fünf Kinder. Die Infrastruktur ist ebenfalls schwer beschädigt worden. Ich denke, es wird eineinhalb bis zwei Jahre dauern, die Vorkriegsbedingungen wiederherzustellen. Viel schlimmer ist die Zerstörung aber in der Ostukraine. Dieser Krieg hat unsere Wirtschaft und unsere Infrastruktur ruiniert. Es wird so viel Geld und Zeit kosten, das alles wieder aufzubauen.

Würden Sie sagen, dass Putin gescheitert ist mit seiner Strategie, den Widerstand der Ukrainer durch die Zerstörung der Infrastruktur zu brechen?

Er hat sich verrechnet. Erst hat er seine Einheiten geschickt, um die Ukraine zu erobern, erfolglos. Dann hat er seine Raketen und seine Kamikazedrohnen geschickt, erfolglos. Er hat versucht, unsere zivile Infrastruktur zu zerstören und die Menschen erfrieren zu lassen, das war auch erfolglos. Er hat nicht mit dem starken Willen der Ukrainer gerechnet, frei von Russland zu sein.

Was, glauben Sie, ist Putins Ziel?

Putin hat riesige Ambitionen, er hat kranke Ideen. Er will das russische Imperium, das sowjetische Imperium wieder aufbauen. Er akzeptiert die Ukraine nicht als unabhängiges Land. Der größte Fehler (des Westens) war, anzunehmen, dass Putin mit der Annexion der Krim 2014 zufrieden sein würde. Jetzt sehen wir, dass er seine Vision um jeden Preis durchsetzen möchte. Dieses Ziel ist ihm wichtiger als das Leben von Millionen Menschen, das interessiert ihn nicht. Es ist eine riesige Tragödie für unser Land, aber auch für Russland. Ich bin überzeugt, dass irgendwann auch die Russen Putin fragen werden, warum ist mein Bruder, meine Schwester, mein Sohn in diesem sinnlosen Krieg gestorben?

Was hat nach Ihrer Einschätzung zu dieser Fehlkalkulation Putins geführt?

Er hat nur gezählt, wie viele Soldaten und wie viel Munition er hat, um uns zu erobern. Er hat dabei nicht berücksichtigt, dass wir für unsere Kinder und für unsere Zukunft kämpfen. Deswegen sind wir so erfolgreich. Wir verteidigen unsere Familien, unsere Städte, unser Land. Wir sind sehr, sehr motiviert. Wir gewinnen diesen sinnlosen Krieg. Russland hat keine Chance.

März 2022: Vitali Klitschko (l), Bürgermeister von Kiew, besucht einen Kontrollpunkt in der ukrainischen Hauptstadt. (Archivbild)

März 2022: Vitali Klitschko (l), Bürgermeister von Kiew, besucht einen Kontrollpunkt in der ukrainischen Hauptstadt. (Archivbild)

Sie sprechen vom Sieg. Wann rechnen Sie damit?

Auf diese Frage kann ich keine klare Antwort geben, ich bin kein Wahrsager. Es hängt sehr viel ab von uns Ukrainern, aber auch von unseren internationalen Partnern. Die Unterstützung der Ukraine mit modernen Waffen ist sehr wichtig. Verteidigungswaffen, möchte ich betonen: Wir greifen niemanden an, wir verteidigen unser Land. Die Ukraine war immer ein friedliches Land. Jetzt haben wir keine Alternative, wir müssen um unser Überleben kämpfen. Frage: In Deutschland gibt es immer wieder Diskussionen darüber, ob man der Ukraine schwere Waffen liefern soll – etwa im Fall des Kampfpanzers Leopard. Kritiker werfen der Bundesregierung vor, über solche Lieferungen zu zögerlich zu entscheiden.

In Deutschland gibt es immer wieder Diskussionen darüber, ob man der Ukraine schwere Waffen liefern soll – etwa im Fall des Kampfpanzers Leopard. Kritiker werfen der Bundesregierung vor, über solche Lieferungen zu zögerlich zu entscheiden.

Ich möchte mich nicht beschweren und mich noch einmal bedanken bei den Deutschen. Deutschland ist einer der größten Unterstützer der Ukraine, was die finanzielle Hilfe und was Waffenlieferungen betrifft. Aber es stimmt, die deutsche Regierung trifft ihre Entscheidungen viel zu langsam, und dafür zahlen wir den höchsten Preis: Das Leben unserer Soldaten und das Leben unserer Bürger. Sollten wir den Krieg verlieren, würde Putin Polen angreifen. Sein Ziel ist wie gesagt, das alte sowjetische Imperium aufzubauen. Dazu gehörte viele Jahre lang auch ein Teil Deutschlands. Deswegen ist es so wichtig, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen. Wir kämpfen, damit Deutsche nicht kämpfen müssen. Wir verteidigen die gleichen Werte.

Sie glauben tatsächlich, wenn die Ukraine den Krieg verlieren sollte, würde irgendwann auch Deutschland von Putin angegriffen werden?

Langfristig ja.

Welche Waffen aus dem Ausland braucht die Ukraine besonders dringend?

Ich bin kein Fachmann, aber unsere Militärs sagen, wir brauchen noch mehr Abwehrsysteme, wir brauchen mehr Artilleriemunition, wir brauchen Panzer, wir brauchen Flugzeuge.

Welche Botschaft haben Sie für Menschen wie die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer, die Verhandlungen der Ukraine mit Russland fordern?

Das ist das Narrativ der Russen, das ist ein russischer Trick. Wir sind bereit dazu, Kompromisse zu finden, aber erst dann, wenn der letzte russische Soldat das Gebiet der Ukraine verlassen hat. Dann können wir uns an einen Runden Tisch setzen und mit Russland sprechen. Einen Teil der Ukraine an Russland zu übergeben, ist kein Kompromiss.

Dazu gehört die 2014 von Russland völkerrechtswidrig annektierte Krim?

Die Krim ist ein Teil der Ukraine.

Vor wenigen Tagen war die SPD-Spitze in Kiew, die auch mit Ihnen zusammengetroffen ist. Wie wichtig war der Besuch?

Er war ein wichtiges Signal. Es ist sehr wichtig, dass Politiker aus dem Ausland in die Ukraine kommen, um nicht nur im Fernsehen zu sehen, wie die Lage hier ist. Kiew vermittelt allerdings die Illusion, dass alles friedlich ist. Hier sind die Restaurants und die Cafés offen, auf den Straßen laufen Fußgänger. Hier spürt man den richtigen Krieg nicht. Im Osten des Landes sieht es ganz anders aus.

Würden Sie sich wünschen, dass deutsche Politiker auch den Osten besuchen?

Ja. Dort könnten deutsche Politiker eine riesige Tragödie sehen. Zerstörte Dörfer und Städte, wie bei der Apokalypse, manchmal steht kein einziges Gebäude mehr.

Welche Hilfe würden Sie sich von Deutschland für den Wiederaufbau wünschen?

Im Moment benötigen wir von Deutschland vor allem militärische Unterstützung. Danach aber brauchen wir eine Art Marshallplan zum Wiederaufbau, bei dem Deutschland eine führende Rolle spielen sollte. Dabei muss es auch um Reformen für eine demokratische, europäische Ukraine gehen, etwa im Justizbereich. Dabei sollte Deutschland als Lokomotive der europäischen Wirtschaft und Demokratie ein Ratgeber, ein Partner der Ukraine sein.

Interview: Can Merey / Mitarbeit: Yuri Shyvala