Nie schien eine Ablösung von Präsident Erdogan wahrscheinlicher als bei dieser Türkei-Wahl. Herausforderer Kilicdaroglu hat zum Schluss mit einer umstrittenen Kampagne gegen Flüchtlinge alles auf eine Karte gesetzt und trotzdem verloren. Das Wahlergebnis ist niederschmetternd für die Opposition – und hat auch Folgen für Europa.
Wahlkrimi in der TürkeiUnbesiegbarer Präsident: Der Erdogan-Triumph und seine Folgen
Zehntausende jubelnde Anhänger von Recep Tayyip Erdogan haben sich nach der Stichwahl in der Türkei vor dem festlich beleuchteten Präsidentenpalast in Ankara versammelt. Gegen Mitternacht tritt der türkische Präsident schließlich auf den Balkon seines gigantischen Amtssitzes, der mehr als 1100 Zimmer umfasst und den er in ein Naturschutzgebiet bauen ließ - nach seinen Worten ist es freilich nicht sein Palast, sondern der des Volkes.
Nicht nur er und seine islamisch-konservative AKP seien siegreich aus der Wahl hervorgegangen, ruft der Präsident. „Die Türkei hat gewonnen.“ Vor allem habe keiner der 85 Millionen Türken verloren. Solche Botschaften der Einheit gehören zum Standardrepertoire von Erdogan-Siegesreden. Dass die Opposition sie ihm nicht abkauft, hat Gründe: Erdogan hat die Türkei gespalten wie kaum jemand vor ihm.
Bis zum Ende ist die Türkei-Wahl ein Wahlkrimi geblieben: Bei der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu liegt bei der Stimmenauszählung am Sonntagabend zwar von vornherein Erdogan vorne. Bei der oppositionsnahen Nachrichtenagentur Anka führt zunächst aber Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. Gegen 19 Uhr verliert Kilicdaroglu dann die Führung auch bei Anka. Noch vor Auszählung aller Stimmen erklärt Erdogan sich selbst zum Gewinner der Präsidentenwahl, die Wahlbehörde bestätigte den Sieg später offiziell.
Kilicdaroglu sagt bei einem Auftritt am Abend, seine Partei werde weiter für die Demokratie kämpfen. Er beklagt zugleich: „Wir haben den unfairsten Wahlkampf der letzten Jahre erlebt. Alle Staatsmittel wurden für eine politische Partei mobilisiert und einem Mann zu Füßen gelegt.“ Gemeint sind Erdogan und seine AKP.
Erdogan wird die Türkei nach dem hundertjährigen Jubiläum der Republik am 29. Oktober als Präsident ins nächste Jahrhundert führen, das ist schon lange sein erklärtes Ziel. Nach Auszählung fast aller Stimmen kommt Erdogan vorläufigen Angaben zufolge auf gut 52 Prozent, Kilicdaroglu auf knapp 48 Prozent der Stichwahlstimmen – bei einer Wahlbeteiligung von fast 86 Prozent. Erdogan kann nun weitgehend durchregieren. Bei der ersten Wahlrunde vor zwei Wochen hat das von seiner AKP geführte Parteienbündnis bereits eine bequeme Mehrheit im Parlament gewonnen.
„Ich habe jede Hoffnung verloren“
Vor dem CHP-Hauptquartiert hat sich am Sonntagabend nur eine Handvoll Unterstützer versammelt. Sie sitzen frustriert auf dem Bürgersteig, während auf den Straßen hupende Konvois mit jubelnden AKP-Unterstützern vorbeifahren, die Parteiflaggen schwenken und aus deren Boxen Erdogan-Lieder dröhnen. Der 20-jährige Ingenieur-Student Ibrahim, der ein T-Shirt einer Heavy-Metal-Band trägt und eine Zigarette raucht, ist den Tränen nahe. Für ihn war es seine erste Wahl. „Ich habe jede Hoffnung verloren“, sagt Ibrahim. „Für mich fühlt es sich an, als hätte ich mein Vaterland verloren.“ Er überlege jetzt, nach Europa auszuwandern, und sei mit diesem Gedanken „definitiv“ nicht alleine unter jungen Türkinnen und Türken. „Viele meiner Freunde haben sich schon für Studiengänge im Ausland beworben.“
„Das ist auch mein Land“
Neben Ibrahim sitzt ein junges Pärchen am Straßenrand, die beiden wollen aus Angst vor möglichen Repressalien der Regierung ihre Namen nicht nennen. „Wir sind traurig und enttäuscht“, sagt der Mann, der Apotheker ist. Sie ist Jura-Dozentin und voller Pessimismus, was die Zukunft unter Erdogan angeht. „Bei Menschenrechten und Demokratie wird die Türkei sich noch weiter zurückentwickeln“, meint sie. „Gewalt gegen Frauen wird zunehmen. Ich habe Angst, dass die Scharia eingeführt werden könnte. Ich glaube, meine Rechte werden weiter beschnitten werden.“ Ob sie in Erwägung zögen, die Türkei zu verlassen? Die beiden schauen sich an und überlegen kurz, dann sagt sie: „Nein. Das ist auch mein Land.“
Nie erschien eine Ablösung wahrscheinlicher
Mit seinem Sieg bei der Stichwahl hat Erdogan seinen Ruf als schier unbesiegbarerer Ausnahmepolitiker zementiert. Seit mehr als 20 Jahren bestimmt er die Geschicke der Türkei, er hat Regierungskrisen, Korruptionsvorwürfe und einen Putschversuch überstanden. Erdogan hat die Verfassung ändern lassen und ein Präsidialsystem mit sich selbst an der Spitze eingeführt, das Kilicdaroglu wieder abschaffen wollte. Und natürlich hat Erdogan etliche Wahlen gewonnen.
Nie erschien eine Ablösung Erdogans wahrscheinlicher als bei dieser Präsidentenwahl. In Umfragen davor führte CHP-Chef Kilicdaroglu, ein Sieg schon bei der ersten Wahlrunde wirkte zum Greifen nahe. Der Enthusiasmus seiner Anhänger schlug in Enttäuschung um, als Erdogan vor zwei Wochen dann doch wieder klar vorne lag, selbst wenn er das erste Mal in eine Stichwahl gezwungen wurde.
Dem Ultranationalisten Sinan Ogan – der als chancenloser dritter Kandidat im Rennen war und mit 5,2 Prozent abschnitt – kam vor der Stichwahl plötzlich die Rolle des Königsmachers zu. Ogan schlug sich auf die Seite Erdogans und sprach eine entsprechende Wahlempfehlung aus, es war ein weiterer Rückschlag für Kilicdaroglu. Der Oppositionskandidat fand dann allerdings in Ümit Özdag einen anderen Rechtsaußen-Politiker als Verbündeten. Özdag rief seine Anhänger dazu auf, Kilicdaroglu zu unterstützen – der dafür nach Ansicht von Kritikern seine Seele verkaufte.
In einem Abkommen mit Özdag vereinbarte Kilicdaroglu unter anderem, im Fall seines Wahlsiegs die rund vier Millionen Flüchtlinge in der Türkei – darunter 3,6 Millionen Syrerinnen und Syrer – binnen eines Jahres in ihre Heimatländer abzuschieben. Umfragen zufolge unterstützt eine große Mehrheit der Türken einen solchen harten Kurs, weswegen Kilicdaroglu auf diese letzte Karte gegen Erdogan gesetzt haben dürfte. Seine CHP ist aber traditionell eine Mitte-Links-Partei, die nun mit der harschen Antiflüchtlingsrhetorik ihres Chefs plötzlich Erdogans islamisch-konservative AKP weit rechts überholte.
Erdogan hat die Krise mit Wahlgeschenken noch angeheizt
Kilicdaroglu hat damit auch im Zusammenschluss der sechs Oppositionsparteien, deren gemeinsamer Kandidat er ist, für erhebliche Unruhe gesorgt. Kritiker wie der Abgeordnete Mustafa Yeneroglu, der dem Bündnis angehört, warfen dem Kandidaten vor, „die gefährliche Sprache der Ultranationalisten“ übernommen zu haben. Dabei hatte Kilicdaroglu im Wahlkampf ursprünglich einen ausgleichenden Ton angeschlagen. Er warb für eine Rückkehr zur Demokratie, für Transparenz und gegen Diskriminierung. Die Türkei wollte er wieder an den Westen heranführen, weswegen ihm auch in den Regierungszentralen in Berlin, Brüssel und Washington die Daumen gedrückt wurden.
Erdogan hat in den vergangenen Jahren immer wieder Spannungen der Türkei mit anderen Nato-Partnern und mit EU-Staaten wie Deutschland angeheizt, zugleich hat er die Nähe zu Russland gesucht. Kremlchef Putin gratuliert seinem Amtskollegen am Sonntagabend schon vor dem Ende der Stimmauszählung zur Wiederwahl. Diesen Kurs dürfte Erdogan nun fortsetzen oder sogar noch verschärfen. Verschärfen dürfte sich allerdings auch die Wirtschaftskrise. Im April lag die offizielle Inflationsrate in der Türkei bei knapp 44 Prozent, weil die Statistikbehörde aber wie alle nationalen Behörden unter AKP-Kontrolle ist, traut kaum jemand ihren Angaben. Die tatsächliche Teuerungsrate in der Türkei dürfte deutlich höher liegen. Erdogan hat die Krise mit zahlreichen Wahlgeschenken noch angeheizt. Nach seinem Wahlsieg wird er die hausgemachte Misere nun selbst ausbaden müssen – und nicht die Opposition.
Abgang 2028 ohne Abwahl?
Kritiker befürchten, dass der zunehmend autokratisch regierende Erdogan auch innenpolitisch eine härtere Gangart wählen wird. Etliche Regierungskritiker sitzen im Gefängnis, für sie ist Erdogans Wahlsieg besonders bitter – damit haben sie kaum Hoffnung auf eine Freilassung. Die Justiz in der Türkei ist längst nicht mehr unabhängig. Die allermeisten Medien werden von Erdogans Umfeld kontrolliert. Erdogan – der im März 2003 als Ministerpräsident antrat – ist nun bis zum Jahr 2028 als Präsident gewählt. Ein weiteres Mal darf er nach der Verfassung nicht kandidieren. Wenn er sich daran hält und in fünf Jahren freiwillig abtritt, wird er die Türkei mehr als ein Vierteljahrhundert lang durchgängig regiert haben – ohne ein einziges Mal abgewählt worden zu sein. (RND)