AboAbonnieren

Warum Ostdeutsche anders auf Russland blicken

Lesezeit 4 Minuten

Berlin – Noch vor drei Wochen klang Dietmar Bartsch anders. Ein Krieg dürfe nicht herbeigeredet werden, sagte der Chef der Linksfraktion damals an die Adresse der USA. „Frieden ist nur mit, nicht gegen Russland durchsetzbar.”

Nach dem Angriffsbefehl des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine aber zeigt sich der Rostocker Bundestagsabgeordnete erschüttert. „Das ist eine Zäsur”, sagt Bartsch der Deutschen Presse-Agentur.

Wie Bartsch haben viele Ostdeutsche traditionell einen anderen Blick auf Russland und die Nato als viele Westdeutsche - mehr Verständnis für russische Sicherheitsinteressen, mehr Distanz zu den USA und der Westallianz. Der frühere brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) mahnte die Nato immer wieder ab und bot sein Deutsch-Russisches Forum als Brückenbauer an. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) suchte bisweilen den direkten Draht zu Putin und sprach gegen EU-Wirtschaftssanktionen. Nun sind alle im Entsetzen über den Angriff auf die Ukraine geeint. „Das ändert die Situation in Europa fundamental”, sagt Bartsch.

Traditionell engere Wirtschaftsbande

Ostdeutschland wird die Auswüchse dieses geopolitischen Konflikts zu spüren bekommen, denn auch die wirtschaftlichen Verbindungen sind traditionell enger. Mehrere ostdeutsche Handelskammern schlugen diese Woche Alarm, weil sie negative Folgen von EU-Sanktionen gegen Russland fürchten. Allein Brandenburg hatte zuletzt ein Ausfuhrvolumen Richtung Russland, Ukraine und Belarus von 307 Millionen Euro.

Die Saatgutfirma Satimex in Quedlinburg in Sachsen-Anhalt erzielt in Russland etwa 70 Prozent des Jahresumsatzes, wie Geschäftsführer Eike Kampe sagt. Auch er hält Wirtschaftssanktionen für falsch, denn sie hätten „in erster Linie wirtschaftliche Nachteile für Deutschland und einige weitere EU-Staaten”. Im Osten Deutschlands gebe es grundsätzlich eine große Verbundenheit zu Russland, auch gesellschaftlich, sagt Kampe. „Wir haben alle die russische Sprache in der Schule gelernt, das fördert die Verständigung.”

Zu DDR-Zeiten russische Kultur „inhaliert”

Die in Weimar geborene Historikern Silke Satjukow hat nach der Wende in Moskau studiert. Zu DDR-Zeiten hätten die Ostdeutschen russische Kultur „inhaliert”, sagt die Professorin der Uni Halle-Wittenberg der dpa. Anfangs seien die stationierten sowjetischen Soldaten Feinde gewesen. „Aber eine halbe Million Russen über ein halbes Jahrhundert, das schafft auch Nähe.” Man habe zusammen gefeiert, sich angefreundet, geheiratet. Millionen waren in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft.

Die Sicht auf die Welt zu DDR-Zeiten nennt Satjukow eine „Imagination der Balance”: zwei Weltteile, das sozialistische Lager und die USA, beide gleich stark. In der Konfrontation zwischen Nato und Russland scheine für viele Ostdeutsche dieses Gleichgewicht gekippt. „Die Balance ist aus den Fugen, und da setzt man auf alte Denkmuster, die eingeübt sind, von Kindheit an”, sagt die Historikerin. „Jeder hat einen Filter im Kopf. Das Gedächtnis der Westdeutschen ist ein anderes als das ostdeutsche.”

Gemeinsame Erfahrung von Verlust

Wie Satjukow verweist auch die ostdeutsche Historikerin Katja Hoyer auf einen weiteren Punkt: eine gemeinsame Erfahrung von Verlust nach der Wende. Russland habe auf der globalen Ebene den Kalten Krieg verloren, innerhalb Deutschlands sei das für die DDR ähnlich gewesen, sagt Hoyer, die inzwischen am Londoner King's College forscht. Die Verlierer im Kalten Krieg hatten sich unterzuordnen. „Ob das bewusst war, weiß ich nicht, aber diese Erfahrungen prägen.”

Viele Russen seien der Meinung, der Westen habe sie nicht richtig ernst genommen, sagt der frühere DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière dem Magazin „Cicero”. In der Ausdehnung der Nato nach Osten sieht er eine verletzte Zusage des Westens aus der Wendezeit. „Ich weiß, dass der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse mündlich eine solche Zusage machte”, sagt de Maizière. Daran erinnern viele immer wieder.

Neue Ausrichtung?

Noch im Sommer 2021 sprachen sich in einer Umfrage für das Redaktionsnetzwerk Deutschland 50 Prozent der befragten Ostdeutschen für ein engeres Verhältnis zu Russland aus - aber nur 25 Prozent der Westdeutschen. 60 Prozent der Ostdeutschen in dieser Umfrage plädierten für mehr Unabhängigkeit von den USA, aber nur 32 Prozent der Westdeutschen.

Wird sich das mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ändern? Hoyer sagt, noch vor einer Woche hätte sie das verneint. „Aber ich fand es erstaunlich, wie sehr sich der Ton jetzt geändert hat.” Viele Ostdeutsche hätten eben auch einen gewissen Pazifismus und Anti-Militarismus verinnerlicht. „Das hat in den Köpfen und Herzen der Putin-Versteher den Effekt, dass der Pazifismus mit der pro-russischen Ausrichtung in Konflikt gerät”, sagt die Historikerin. Nicht ausgeschlossen, dass sich da gerade etwas verschiebt und sich Ost- und Westdeutsche annähern in dieser Krise.

© dpa-infocom, dpa:220225-99-289112/2 (dpa)