Ist Friedrich Merz die Kanzlerschaft noch zu nehmen? In der Union glaubt das kaum jemand. Doch ein Risiko auf dem Weg zum Wahlsieg gibt es noch: Merz selbst.
Wird Merz neuer Kanzler?Was dem CDU-Chef auf dem Weg nach oben noch gefährlich werden könnte
Friedrich Merz feiert dieser Tage ein besonderes Jubiläum. Vor 20 Jahren hat der CDU-Mann seine erste letzte Bundestagsrede gehalten. Das war am 23. November 2004, die Themen waren die gleichen wie heute. „Sie werden mit dem Nachtragshaushalt für das Haushaltsjahr 2004 die höchste Neuverschuldung ausweisen“, donnerte Merz dem damaligen Finanzminister Hans Eichel von der SPD entgegen.
„Sie hängen schon kleinen Kindern schwere Mühlsteine hoher Schulden um den Hals.“ SPD-Fraktionschef Franz Müntefering versetzte das in Rage: „Sie müssen Ihren letzten Auftritt nicht nutzen, um solche Geschichten zu erzählen“, herrschte er Merz an.
Seitdem ist viel passiert. Merz verließ einige Jahre später die Politik und wechselte in die Wirtschaft. Zweimal versuchte er den CDU-Parteivorsitz zu gewinnen – und scheiterte. Erst 2022 gewann er ihn, übernahm zusätzlich den Fraktionsvorsitz und stellte die CDU in der Opposition neu auf. Als Kanzlerkandidat der Union ist er der aussichtsreichste Anwärter auf das machtvollste Amt Deutschlands. Amtsinhaber Olaf Scholz? Ist durch den parteiinternen Streit um seine erneute Kandidatur geschwächt. Robert Habeck? Muss sich Fragen anhören, warum die Grünen überhaupt einen Kanzlerkandidaten aufstellen.
CDU: Merz sieht sich schon im Kanzleramt
Und Merz? Scheint mit der Union, die derzeit doppelt so stark wie SPD und Grüne zusammen ist, vor Kraft kaum laufen zu können. Mit Anzug und Hemd, aber ohne Krawatte sitzt der CDU-Mann in einem Büro im Adenauer-Haus. Merz schaut freundlich in die Kamera und wendet sich an die Wählerinnen und Wähler. „Bleiben Sie zuversichtlich, auch wenn es schwierige Zeiten sind“, sagt er. „Wir bereiten uns intensiv auf die Übernahme der Regierungsverantwortung vor.“ Es klingt so, als ob an der Union kein Weg mehr vorbeiführt – als ob er sich schon im Kanzleramt sieht.
Auch die Schwesterpartei CSU platzt in diesen Tagen vor Selbstbewusstsein. Parteichef Markus Söder verteilt bereits fleißig Kabinettsposten. Bayerns Bauernpräsident Günther Felßner soll nächster Bundeslandwirtschaftsminister werden, CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt ein herausgehobenes Ressort bekommen, und Sicherheitsexperte Florian Hahn bringt sich selbst als Verteidigungsminister ins Gespräch.
Posten im Kabinett werden schon verteilt
Manche in der Union besorgt dieser Hochmut. Denn der Wahlkampf hat noch nicht begonnen. Den Fokus will Merz neben der inneren Sicherheit vor allem auf die Wirtschaftspolitik legen. Zufall ist es nicht, dass der CDU-Mann in den vergangenen Wochen von Verband zu Verband getingelt ist: Bitkom, Start-up-Verband, Junge Unternehmerinnen. Unter Wirtschaftsvertretern fühlt Merz sich wohl, er hält sich für einen von ihnen.
Nach dem verlorenen Machtkampf gegen Angela Merkel und dem Rückzug aus der Politik hat sich der Jurist eine beachtliche Karriere in der Wirtschaft aufgebaut. Merz wurde Partner und später leitender Anwalt bei der Düsseldorfer Niederlassung der US-Großkanzlei Mayer Brown LLP. Für deutlich vierstellige Tageshonorare beriet er Unternehmen bei Übernahmen, in gesellschaftsrechtlichen Fragen sowie im Banken- und Finanzrecht.
Beachtliche Karriere in der Wirtschaft aufgebaut
Die Öffentlichkeit nahm nur selten Notiz von der neuen Tätigkeit des Sauerländers. Lediglich im Sommer 2011 gab es eine kurze Phase der Aufregung, als der „Stern“ enthüllte, dass Merz im Vorjahr im Auftrag der damals schwarz-gelben NRW-Landesregierung und des staatlichen Bankenrettungsfonds Soffin einen Käufer für die marode WestLB gesucht hatte. Die Suche blieb erfolglos – für den Steuerzahler. Merz hingegen kassierte ein Tageshonorar von 5000 Euro. „Marktüblich“ sei das, hatte der Soffin seinerzeit argumentiert.
Hatte es Merz schon als Abgeordneter zu einem gewissen Wohlstand gebracht, wurde er in dieser Phase seines Lebens regelrecht reich – zumindest aus der Perspektive der meisten Menschen in Deutschland. Unter einer Million Euro im Jahr gehe er nicht nach Hause, bekannte Merz 2018, als er sich zum ersten Mal um den CDU-Vorsitz bewarb – und gegen Merkels Vertraute Annegret Kramp-Karrenbauer den Kürzeren zog. Dass er sich selbst zur „gehobenen Mittelschicht zählte“, brachte ihm scharfe Kritik und jede Menge Spott ein.
Merz hatte zahlreiche Aufsichtsrats- und Beiratsmandate
Die Anwaltshonorare allein erklären das Millioneneinkommen nicht. Die siebenstellige Summe erreichte Merz nur, weil er noch zahlreiche Aufsichtsrats- und Beiratsmandate in Unternehmen annahm. Als Aufsichtsrat kontrollierte Merz die Düsseldorfer Privatbank HSBC Trinkaus & Burkhardt, den Arnsberger Hersteller von Hygienepapier Wepa Group, den Flughafen Köln/Bonn, den Versicherer DBV-Winterthur, den Altmetallhändler Interseroh und die Immobiliengesellschaft IVG.
Als Beiratsmitglied stellte er sein Wissen und sein Netzwerk unter anderem dem Chemiekonzern BASF, der Axa-Versicherung, der Commerzbank, der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young, dem Autozulieferer Bosch, der Baumarktkette Möller & Förster, dem Fußball-Bundesligisten Borussia Dortmund sowie der Private-Equity-Gesellschaft Odewald & Compagnie zur Verfügung.
Union will Merz' berufliche Laufbahn als Stärke verkaufen
All diese Tätigkeiten sind wenig bekannt, ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hingegen hat sich Merz’ Engagement für den weltgrößten Vermögensverwalter Blackrock. Von 2016 bis 2020 führte er den Aufsichtsrat der Deutschland-Tochter.
Der Posten klingt wichtiger, als er in Wahrheit ist. Gerade einmal 150 Mitarbeiter beschäftigt der deutsche Ableger des US-Giganten, viel zu kontrollieren gab es für Merz dort nicht. Insider sprechen eher von einem Lobbyistenjob. Merz, so berichtete es die „Wirtschaftswoche“, habe den Amerikanern geholfen, indem er in Deutschland für kapitalgedeckte Altersvorsorge geworben habe. Nach einem mächtigen Strippenzieher des Großkapitals klingt das eher nicht.
Die Union ist trotzdem wild entschlossen, Merz’ berufliche Laufbahn als Stärke zu verkaufen. Gerade angesichts der Wirtschaftskrise brauche das Land doch nichts mehr als ökonomische Kompetenz, heißt es in seinem Umfeld. Die Frage ist, ob Merz’ bunter Strauß an Tätigkeiten dafür als Beleg taugt. Er selbst hegt daran offenbar keinen Zweifel.
Merz ist nah dran, aber noch nicht am Ziel
Am Abend des Ampelbruchs, dem 6. November, sitzt er bei einer Talkrunde des Start-up-Verbands und skizziert schon mal seine Pläne für die nächste Regierung. „Arbeitsmarktpolitik ist für mich Wirtschaftspolitik und nicht Sozialpolitik“, sagt er, nickt mit dem Kopf und ergänzt ein „So“. Es ist seine Art eines Bastas, das er gern hinterherschiebt, wenn er seine Statements unterstreichen möchte. Merz will das Arbeits- und Wirtschaftsministerium zusammenlegen – so wie es einst unter dem sozialdemokratischen „Superminister“ Wolfgang Clement war. Als Merz das ankündigt, ist Christian Lindner als Finanzminister noch nicht einmal entlassen.
Er macht das jetzt öfter: große Pläne ins Fenster stellen, die einen Neuanfang versprechen. So will er etwa eine „Agenda 2030″ aufsetzen – mit Steuererleichterungen für die arbeitende Mitte, Bürokratieabbau und Verschärfungen beim Bürgergeld.
Auch wenn die Vorschläge bisher wenig konkret sind, gefallen sie den Wählerinnen und Wählern offenbar. Laut einer Umfrage von Infratest-Dimap ist Merz an zweiter Stelle der Politiker-Zufriedenheit – hinter Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) und weit vor Scholz.
Merz bei Politiker-Zufriedenheit hinter Pistorius (SPD)
Jene 56 Prozent, die mit Merz nicht zufrieden sind, rufen in den unionsgeführten Ländern Sorgen hervor. In der Partei wird davor gewarnt, wie wahlkampfstark Scholz und seine Truppe seien. „Unterschätzen“ dürfe man ihn nicht, heißt es. Und Merz’ frühere Fehltritte haben sie nicht vergessen. Wie unberechenbar Wahlkämpfe sind, wissen besonders jene, die diese durchgemacht haben. Der frühere SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hat einst ein sehr derbes, aber auch sehr treffendes Bild zur Beschreibung der Dynamiken, Zumutungen und Härten eines Wahlkampfes benutzt: „Eierschleifmaschine“.
Kandidaten werden von Medien wie politischen Gegnern systematisch durchleuchtet. Jedes falsche Wort und jeder kleine Patzer taugen in der heißen Phase zur Schlagzeile. Da braucht man starke Nerven, die Merz, der als impulsiv gilt, nicht immer bewiesen hat. Er ist zwar kontrollierter geworden – der Härtetest aber steht noch aus.
Impulsivität könnte Merz im Wahlkampf gefährlich werden
Die SPD weiß um die Schwächen. Und sie will Merz’ Karriere sowie seine Millionen als Beleg dafür heranziehen, dass er als Kanzler der Falsche wäre. Ein Multimillionär und Lobbyist ohne Regierungserfahrung, aber mit Privatflugzeug, der das Bürgergeld streichen und die Renten kürzen wolle – dieses Zerrbild werden die Genossen in den kommenden Wochen vom CDU-Chef zeichnen. „Es geht jetzt schon los“, warnt ein CDU-Mann.
Welche Antwort haben die Christdemokraten darauf – außer sich zu ärgern? Man werde nicht mit Dreck zurückschleudern, heißt es. Aktuell gilt die Devise „Ignorieren und gegebenenfalls erklären“.
SPD weiß um seine Schwächen
Viel wird darauf ankommen, wie Merz selbst mit seiner Vergangenheit und seinen Millionen umgeht. Wie er reagiert, wenn SPD oder Grüne ihm vorwerfen, keine Ahnung von den kleinen Leuten zu haben. Lässt er sich provozieren? Oder bleibt er cool?
Natürlich sind Erfolg und Wohlstand nichts, was man dem Mann aus Brilon vorwerfen kann. Politisch brisant wird die Sache erst durch Merz’ mangelnde Selbsteinschätzung. Als Teil der Mittelschicht wird er sich kaum inszenieren können, er braucht eine neue Erzählung und andere, authentische Bilder.
Darin versucht sich das Adenauer-Haus gerade. Als Merz kürzlich beim Wirtschaftsgipfel der „Süddeutschen Zeitung“ von seinem Bekenntnis zur Schuldenbremse abrückte, begründete er das so: „Ist das Ergebnis, dass wir noch mehr Geld ausgeben für Konsum und Sozialpolitik? Dann ist die Antwort Nein. Ist es wichtig für Investitionen, ist es wichtig für Fortschritt, ist es wichtig für die Lebensgrundlage unserer Kinder, dann kann die Antwort eine andere sein.“ Der Hinweis auf die Kinder dürfte den Kampagnenmachern gefallen haben. Über sein Verhältnis zur Sozialpolitik müssen sie mit Merz noch mal reden. (rnd)